Farben der Sehnsucht
hätte die Zeit nutzen sollen, um zu gewinnen, statt sich in falscher Bescheidenheit zu üben.«
Sloan merkte, daß die alte Frau niemanden respektierte, der sich von ihr oder ihrem Sohn auf der Nase herumtanzen ließ - auch wenn sie beide immer jemanden brauchten, mit dem sie dies tun konnten. »Paris ist sich bewußt, daß Paul und ich eure Gäste sind, und es steht daher für sie verständlicherweise an erster Stelle, daß wir uns wohl fühlen. Wenn ich mich nicht täusche, habe ich auf irgendeiner Liste mit Anstandsregeln einmal gelesen, daß dies die erste und wichtigste Pflicht des Gastgebers ist. Was hältst du denn davon?« fragte Sloan die alte Frau und setzte eine unschuldige Miene auf.
Edith Reynolds war nicht gewillt, auf sie hereinzufallen. »Junge Frau, willst du mich etwa über höfliche Manieren belehren?«
Ihr Ton war nicht leicht zu deuten: Sie klang zwar leicht gereizt, aber nicht wirklich verärgert.
Sloan biß sich auf die Unterlippe, um nicht lachen zu müssen. »Ja, ich fürchte, das habe ich versucht. Aber nur ein wenig.«
»Unverschämtes Mädchen«, erwiderte Edith schroff, aber immer noch ohne Wut. »Ich kann den ganzen Dreck an dir nicht mehr mit ansehen. Lauf schon los und geh unter die Dusche.«
Sloan begriff, daß sie damit entlassen war, und machte sich unverzüglich von dannen.
»Aber vergeude bitte kein Wasser«, rief ihr Edith noch hinterher.
Als Sloan verschwunden war, heftete Edith ihre hellblauen Augen auf Paris. »Sie ist eine impertinente junge Frau, ohne jeden Respekt für Autoritäten. Und ums Geld schert sie sich auch nicht. Was hältst du von ihr?«
Vor langer Zeit, als sie noch ein Kind war, hatte Paris Reynolds akzeptiert, daß es nutzlos und unklug für jeden Menschen war, einem Mitglied ihrer Familie zu widersprechen. Sie waren alle so herrschsüchtig und unbeugsam, daß sie selbst sich wie ein feiger Weichling vorkam. Und doch hatte sie in der letzten Stunde miterlebt, wie ihre jüngere Schwester zuerst sich selbst und dann Paris gegen den Rest der Familie verteidigt hatte. Dieses unerhörte Ereignis machte es für Paris zur Pflicht, nun dasselbe zu tun. Doch sie war nervös und unsicher und rieb sich erst ihre verschwitzten Handflächen an ihrer Hose trocken, bevor sie endlich den Mund aufmachte. »Ich... Es tut mir leid, Urgroßmutter«, murmelte sie mit zitternder Stimme, »aber sie... sie...«
»Hör auf zu stottern, Kind! Du hast diesen Sprachfehler doch schon Vorjahren überwunden.«
Erschrocken, aber immer noch entschlossen hob Paris ihr Kinn und sah ihrer Urgroßmutter fest in die Augen, genau wie Sloan es vorhin getan hatte. »Ich finde sie großartig!«
»Nun, wieso hast du das dann nicht gleich gesagt?«
Paris sah auf ihre Uhr, weil sie weder eine Antwort parat hatte, noch eine weitere Standpauke über sich ergehen lassen wollte. »Wenn ich mich nicht beeile und noch schnell dusche, kommen wir zu spät zum Golf.«
»Du solltest vorher noch die Garderobe deiner Schwester überprüfen«, versetzte Edith herrisch. »Ich will nicht, daß sie sich und damit uns alle blamiert, während sie hier ist. Sie wird im Club und in der Stadt vielen unserer Freunde begegnen. Falls sie Kleider braucht, borge ihr welche von den deinen.«
Paris senkte verlegen den Kopf. »Ich kann doch nicht in ihrem Schrank herumstöbern und ihre Garderobe kontrollieren.«
»Natürlich kannst du das. Du hast ein sicheres Stilempfinden und entwirfst sogar selbst Kleider.«
»Ja, aber...«
»Paris! Ich verlange von dir, daß du dich darum kümmerst. Und, Paris ...«, rief sie ihr hinterher. »Dennoch sehe ich keinen Grund, einen Haufen Geld zu verschwenden und sie in den teueren Geschäften hier neu einzukleiden. Du solltest ihr nur etwas Neues kaufen, wenn du wirklich nichts findest, das du ihr borgen könntest.«
18
Sloan hatte keine Ahnung, wieviel das FBI über die finanzielle Lage ihres Vaters wußte und ob sie für seine Ermittlungen überhaupt von Bedeutung war. Sie hielt es aber doch für angeraten, Paul - trotz ihrer Enttäuschung, daß er mit weiteren Informationen über seinen Auftrag hinter dem Berg hielt - alles zu erzählen, was sie in Erfahrung gebracht hatte. Nachdem sie auf ihr Klopfen an seiner Zimmertür keine Antwort erhalten hatte, begab sie sich zu ihrem eigenen Zimmer, fand die Tür jedoch verschlossen.
Als sie verwundert an der Tür rüttelte, wurde sie so plötzlich geöffnet, daß Sloan erschrocken zurückwich. Vor ihr stand kein anderer als Paul:
Weitere Kostenlose Bücher