Farlander - Der Pfad des Kriegers - Buchanan, C: Farlander - Der Pfad des Kriegers - Farlander
durch die Tür ins Innere fiel, ob sie zum falschen Ort gekommen waren.
Im Zentrum der winzigen Hütte hockte der Seher im Schneidersitz auf einer Matte aus geflochtenen Binsen und hatte die halbgeschlossenen Augen der Tür zugewandt.
Er war ein hagerer, sehr alter Mann mit einem milchigen Film über den Augen und einer Haut wie der einer Frucht, die zu lange in der Sonne gelegen hatte. Er war offensichtlich ein Farlander, und seine dunkle Haut stand in starkem Kontrast zu den Büscheln weißen Haars, die ihm aus Nase und Ohren wuchsen. Der Kopf war kahl. Die rituell verstümmelten Ohrläppchen hingen ihm bis auf die Schultern. So etwas hatte Nico noch nie gesehen.
Nico drehte sich mit offenem Mund zu Asch um und stellte fest, dass dieser auf dem Boden kniete. Mit einem Kopfnicken bedeutete er Nico, sich neben ihn zu knien.
Der alte Farlander sah Nico schweigend auf eine Weise an, die ihn an eine der Katzen seiner Mutter erinnerte; es war, als würde er etwas anstarren, das gar nicht da war. Der alte Mann blinzelte langsam und verzog die Lippen zu einem Grinsen, das seinen zahnlosen Gaumen enthüllte. Er nickte kurz wie zum Gruß und schien erfreut oder zumindest amüsiert vom Anblick des jungen Mannes vor ihm zu sein.
Er wurde wieder ernst, als er sich an Asch wandte, der ihm kommentarlos das tote Siegel in die zitternden Hände legte.
Sie warteten angespannt. Ein Gesang erfüllte die Luft, als der alte Seher etwas in der Sprache der Farlander jammerte, während er nach den Läusen kratzte, von denen seine Robe übersät war. Schließlich verstummte er und saß völlig reglos und mit geschlossenen Augen da. Gelegentlich setzte sich eine Grasfliege auf seinen kahlen, leberfleckigen Kopf. Es war wie eine der anfänglichen
Meditationsübungen an Bord der Falke , bei denen Nico nicht ruhig hatte sein können und sich sein Körper so verkrampft hatte, dass er schließlich furchtbar geschmerzt hatte. Auch jetzt versuchte er wieder zu meditieren, aber es war zwecklos, denn er war zu gespannt auf das, was als Nächstes geschehen würde. Geistesabwesend nagte er an seiner Lippe und starrte auf die feuchtfleckigen Bretter an der gegenüberliegenden Wand.
Es war eine große Erleichterung, als der alte Seher endlich sein meditatives Schweigen brach, mit den trockenen Lippen schmatzte und sich von dem leblosen Siegel in seinen Händen wegbeugte.
» Shinshō̄̄ ta-kana …«, krächzte er mit hoher Stimme. »Yoshi, linaga! « Dann nickte er und runzelte traurig die Stirn.
»Mord«, übersetzte Asch für den Jungen mit harter Stimme.
Als die Rō̄̄schun an jenem Abend ihr Mahl an den Tischen im großen Speisesaal beendet hatten, der den größten Teil des klösterlichen Nordflügels einnahm, und die Kerzen im verdämmernden, durch die vielen Fenster einfallenden Tageslicht immer heller wurden, brachte ein plötzliches Klirren von Besteck gegen Glas die leisen Unterhaltungen zum Verstummen.
Nico schaute von dem Tisch auf, an dem er zusammen mit den übrigen Lehrjungen saß und noch auf dem letzten Bissen seines Reiskuchens kaute. Aléas hörte auf,
mit ihm zu reden und hob ebenfalls den Blick. Im hinteren Teil des Saales erhob sich ein verhutzelter Farlander langsam von seinem hölzernen Stuhl. Er war älter als Asch, aber nicht ganz so alt und verdorrt wie der Seher. Nico wusste, dass es sich um Oschō handelte, das Oberhaupt des Ordens und der Mann, der dieses Kloster hier in den Bergen von Cheem gegründet hatte. Nico hatte ihn schon mehrfach umherhumpeln sehen, aber noch nie eine Rede von ihm gehört.
Die Stimme des alten Rō̄̄schun ertönte klar und deutlich in dem stillen Raum.
»Meine Freunde«, verkündete er den vielen Gesichtern, die sich ihm nun zugewandt hatten. »Heute Nacht obliegt uns eine Aufgabe von außergewöhnlicher Art. Einer unserer Auftraggeber hat den Rechten Weg beschritten. Der Seher teilte uns mit, dass es Mord war. Er hat uns durch seine Weisheit auch den Verantwortlichen für diese Tat nennen können.« Oschō̄̄ hielt inne, betrachtete jedes einzelne Gesicht und suchte darin nach Aufmerksamkeit oder vielleicht auch nach etwas anderem, das nur er selbst wahrnehmen konnte.
»Heute Abend müssen wir gegenüber einem Priester von Mhann die Vendetta erklären. Beachtet, dass es sich bei ihm nicht um irgendeinen Priester handelt. Nein, wie immer weigert sich das Leben, einfach und geradlinig zu sein. Heute Abend erklären wir die Vendetta gegenüber Kirkus dul Dubois – dem Sohn von
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