Farmer, Philip José - Flusswelt 02
Liebe, mein Leben, meine Welt! Das kannst du nicht tun!
Der Nordmann kam noch näher auf ihn zu. Immer noch zerschnitt die Axt leise zischend die Luft über seinem Kopf.
Ich kann es nicht? Warte nur ab!
Als Sam über die Schulter blickte, gewahrte er einen Schatten, der sich auf ihn zubewegte und zu einer hochgewachsenen, gesichtslosen Gestalt wurde. Sie gehörte X, dem geheimnisvollen Fremden, dem Renegaten unter den Ethikern, der dafür gesorgt hatte, daß der große Meteorit auf diesen Planeten gefallen war, damit Sam zu dem Eisen und Nickel kam, das er benötigte, wenn er auf einer mineralienarmen Welt wie dieser zu seinem geplanten Schiff kommen wollte. Der Unbekannte hatte ihn dabei unterstützt, jetzt war es fertig und konnte den Weg flußaufwärts nehmen, bis es den See am Pol erreichte, wo der unter Wolkenbänken versteckte Turm, der Große Gral, oder wie immer man ihn auch nennen wollte, von dichten Nebeln umdräut stand. Einmal dort angekommen, würden Sam und die elf anderen Auserwählten nach einem Plan, den X ihnen noch immer nicht offenbart hatte, den Turm stürmen und herausfinden, daß… ja, was eigentlich? Was dort vor sich ging.
Fremder! rief Sam. Steh mir bei! Rette mich!
Das Gelächter des anderen war so kalt wie ein Nordwind und verwandelte das Innere seiner Magenwände in Kristall.
Rette dich selbst, Sam!
Nein! Nein! heulte Sam. Du hast es mir versprochen! Und dann stöhnte er mit geöffneten Augen zum letzten Mal auf. Oder hatte er etwa nur geträumt, gestöhnt zu haben?
Er setzte sich auf. Sein Bett war aus Bambus. Die Matratze aus geflochtenen Bambusfasern und mit Blättern des Eisenbaums gefüllt. Das Laken bestand aus fünf mit Magnetverschlüssen aneinandergehefteten Tüchern. Das Bett stand mit dem Kopfende an der Wand eines zwanzig Quadratmeter großen Raumes, in dem ein großer und ein kleiner runder Tisch standen, des weiteren ein Dutzend aus Bambus- oder Pinienholz hergestellter Stühle und ein tönerner Nachttopf. Er sah einen aus dickem Bambusrohr gefertigten, halbvollen Wassereimer, eine große Kiste, in der hochkant aufgerollte Papierrollen standen, einen Ständer mit Bambus- und Pinienholzspeeren, die entweder Feuerstein- oder Eisenspitzen besaßen, Eibenholzbogen und Pfeile, eine Streitaxt aus Nickeleisen und vier lange, stählerne Messer. An der Wand waren mehrere Haken angebracht, an denen weiße Tücher hingen. An einem Hutständer baumelte eine Seemannsmütze; die eines Offiziers. Sie war aus Leder und mit dünnem, weißem Stoff überzogen.
Auf dem großen Tisch stand sein Gral, ein grauer Metallzylinder mit einem Griff aus dem gleichen Material.
Auf dem runden Beistelltischchen: gläserne Fläschchen, deren Inhalt aus tiefschwarzer Tinte bestand, eine Anzahl von knöchernen Schreibstiften, ein Federhalter mit Nickeleisenspitze. Die daneben ausgebreiteten Blätter waren aus Bambus gemacht; andere wiederum aus dem feinen Pergament, das die Magenwände des Hornfisches lieferten.
Gläserne Fenster in den Wänden! Soweit Clemens wußte, war dies das einzige Haus seiner Art auf der ganzen Welt. Mit ziemlicher Sicherheit gab es jedenfalls keines im Umkreis von zehntausend Meilen.
Das einzige Licht kam vom Himmel herab. Obwohl das Morgengrauen noch nicht eingesetzt hatte, war es heller als bei Vollmond auf der Erde. Gigantische Sterne, von denen manche so hell waren, als seien sie abgebrochene Stücke des Mondes, leuchteten in allen Farben. Zwischen ihnen schwebten leuchtende Nebel dahin, und es sah fast so aus, als seien einige davon dieser Welt näher als die Sterne selbst: Es waren kosmische Gaswolken, Erscheinungen, die die etwas empfindsameren Bewohner des Flußtales stets aufs neue in Erstaunen versetzten.
Sam Clemens leckte sich die Lippen, die noch immer nach dem Likör schmeckten, den er vor dem Einschlafen zu sich genommen hatte. Sie schmeckten sauer. Aber auch der Alptraum hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in Sams Mundhöhle. Er taumelte hoch und durchquerte den Raum. Erst als er vor dem Tisch stand, nach seinem Feuerzeug griff und mit dessen Flamme ein kleines Fischöllämpchen anzündete, öffnete er die Augen ganz.
Er machte eines der Fenster auf und schaute auf den Fluß hinab. Noch vor einem Jahr hätten seine Augen nichts weiter als eine flache Ebene mit einer Breite von eineinhalb Meilen erblickt, auf der außer kurzem, zähem, hellgrünem Gras keine Vegetation existierte. Was er jetzt sah, waren hochaufgetürmte Erdhügel, tief in den Boden
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