Farmer, Philip José - Flusswelt 04
verbissen am Mundstück seiner Zigarre.
Göring fuhr damit fort, seine Bekanntschaft mit Burton zu referieren und schmückte das, was Burton ihm erzählt hatte, ein wenig aus. Die Menge geriet ganz in seinen Bann; nirgendwo war ein Geräusch zu hören. Dies war etwas Neues für sie; etwas, von dem die bisherigen Missionare der Chancisten nie zuvor gesprochen hatten.
»Burton nannte dieses rätselhafte Wesen den Ethiker. Er sagte weiterhin, daß der Ethiker, mit dem er gesprochen hatte, eine andere Meinung verträte als seine Kollegen. Offenbar existiert sogar zwischen Wesen, die man für Götter halten könnte, so etwas wie Zwietracht. Ein Disput oder Uneinigkeit auf dem Olymp, wenn ich mal so sagen darf. Trotzdem glaube ich nicht, daß die sogenannten Ethiker Götter, Engel oder Dämonen sind. Sie sind menschliche Wesen wie wir, nur ihr ethisches Bewußtsein hat eine höhere Ebene erreicht. Den Grund ihrer Zwietracht kenne ich, offengestanden, nicht. Möglicherweise haben sie unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie sie ihr Ziel erreichen wollen.
Aber trotz allem – sie verfolgen in jedem Fall das gleiche Ziel! Daran gibt es nichts zu zweifeln. Und was ist ihr Ziel? Aber zunächst möchte ich euch von dem anderen Zeugen berichten. Um noch einmal ganz offen zu sein…«
»Ich dachte, du seist Hermann!« rief ein Mann dazwischen.
»Von mir aus auch Meier«, sagte Göring, ohne eine Pause zu machen, um den Witz zu erklären. »Etwa ein Jahr nach dem Wiedererweckungstag saß dieser Zeuge in einer Hütte am Fuß eines steilen Berges, der sich in einem Land befindet, das von hier aus gesehen im hohen Norden liegt. Er hat einen Geburtsnamen und heißt Jacques Gillot, aber wir von der Kirche der Zweiten Chance nennen ihn meist La Viro. Das heißt >der Mensch<. Wir nennen ihn auch La Fondito, den Gründer. Er ist während seines langen Lebens auf der Erde stets ein gläubiger Mensch gewesen. Aber jetzt war sein Glaube zerbrochen. Gillot war verwirrt und wußte nicht mehr, was er mit sich anfangen sollte.
Er hatte stets versucht, streng nach den Regeln zu leben, die seine Kirche, die für ihn das Sprachrohr Gottes war, aufgestellt hatte. Nicht etwa, daß er sich für einen guten Menschen hielt. Schließlich hat sogar Jesus gesagt, daß es keinen guten Menschen gibt, und nicht einmal sich selbst als einen solchen bezeichnet.
Aber relativ gesehen war Jacques Gillot ein guter Mensch. Er war nicht perfekt; wenn er gelogen hatte, dann nur deswegen, um andere nicht zu verletzen, und nicht, um den Konsequenzen seiner eigenen Taten zu entgehen. Auch sagte er niemals Dinge über andere Menschen, die er nicht wiederholen konnte, wenn sie zugegen waren. Er war seiner Frau nie untreu und liebte sie und seine Kinder aufrichtig. Er hat nie einen Menschen von seiner Schwelle gewiesen, weil sie sozial unter ihm standen, andere politische Ansichten hatten oder einer anderen Rasse oder Religionsgemeinschaft angehörten. Sicher ist er hin und wieder auch ungerecht gewesen, aber nur aus Unwissenheit oder Voreiligkeit. In solchen Fällen pflegte er seine Irrtümer jedoch einzusehen und sich zu entschuldigen, wobei er Besserung gelobte. Er ist ausgeraubt und betrogen worden, doch die Rache hat er stets Gott überlassen. Kampflos ließ er sich allerdings nicht auf der Nase herumtanzen.
Vor seinem Tod hatte er gebeichtet und die Sterbesakramente empfangen.
Und so fragte er sich, warum er hier gelandet war, zwischen hemdsärmeligen Politikern, Meuchelmördern, Kindesschändern, betrügerischen Geschäftsleuten, Winkeladvokaten, Beutelschneidern, Ehebrechern, Wüstlingen, Dieben, Hurenböcken, Halsabschneidern, Folterknechten, Terroristen, Heuchlern, Schwindlern, Wortbrüchigen und Parasiten, zwischen all den Gemeinen, Habgierigen, Heimtückischen und Gefühllosen.
Und während er in seiner Hütte am Fuß des Berges saß und der Regen auf das Dach prasselte, der Wind heulte, die Blitze zuckten und der Donner grollte wie die Schritte eines zornigen Gottes, dachte er über diese scheinbare Ungerechtigkeit nach und gelangte schließlich zu einem Schluß: Jemand schien der Ansicht zu sein, daß er nicht besser war als all die anderen.
Der Gedanke, daß es den anderen nicht besser ging als ihm selbst, munterte ihn jedoch keinesfalls auf, denn wenn man sich in einem sinkenden Boot befindet und weiß, daß auch die anderen ertrinken werden, stärkt einem das nicht gerade den Rücken.
Was sollte er also tun? Er wußte nicht einmal, was man
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