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Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Titel: Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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sich zur Mutprobe, über die tückischen Schollen vom einen Ufer zum anderen zu laufen. Aber so weit gehen Dorly, Marie, Waldemar und Kurt nicht. Am Rheinhafen liegen die Schleppkähne fest eingeschlossen im Eis. Sie werden ihre Reise nach Rotterdam erst wieder aufnehmen, wenn Tauwetter einsetzt. Gelangweilt lungern die Matrosen auf der Kaistraße und sehen den Schlittschuhläufern nach, die das gefrorene Flussufer entlang aus der Stadt herangleiten, das Schwimmdock umkreisen, hinter dem Kohlelager verschwinden und bei der Verladebrücke wieder auftauchen.
    »An jenem Abend brachte Kurt Sandweg Schlittschuhkufen mit. Es waren das sogenannte Fasstuugeli, die man an den Schuhen festschrauben kann und die er am Hafenbecken ausprobieren wollte. Sandweg hatte auch für Marie Stifter ein Paar mitgebracht, aber diese wollte sich darauf partout nicht einlassen, auch hätte man die Kufen an Damenschuhen schwerlich befestigen können. Es war das für Sandweg das erste Mal in seinem Leben, dass er auf Schlittschuhen stand, und er hat daraus eine richtige Clown-Nummer gemacht. Hin und wieder gelang ihm eine schnurgerade Fahrt über mehrere Meter, dann stand er steif wie ein Besen auf den Kufen und jauchzte. Aber jedes Mal geriet er umgehend ins Schlingern und brach in den Fußgelenken ein, die Knie schlugen zusammen, und die ledernen Innenriste der Schlittschuhe schliffen übers Eis. Dann fiel er hin, lachte und stand sofort wieder auf. Wir haben sehr über ihn gelacht. Ich erinnere mich, dass ich zu Velte sagte, er und Sandweg seien schon ein komisches Duo – der eine ein Bajazzo, der andere ein richtiger Totengräber. Darüber ist Velte sehr erschrocken, und er frug mich, wie ich das meine. Ich konnte ihm keine rechte Antwort geben.«

8
    An zwei aufeinanderfolgenden Abenden hat Marie Stifter Kurt Sandweg, Waldemar Velte und Dorly Schupp auf Spaziergängen begleitet, und beide Male ist sie zum letzten Zug gerannt, der um dreiundzwanzig Uhr vierzig auf Gleis sieben fuhr. Am zweiten Abend brach ihr in der Bahnhofshalle der Absatz des linken Schuhs. Sie zog den Schuh hüpfend aus, riss den Absatz ab, steckte ihn in die Handtasche und schlüpfte wieder in den Schuh, hinkte durch die Unterführung, dann die Treppe hoch auf den Bahnsteig. Das eiserne Dach der Bahnhofshalle war weit und schwarz, das Licht bleich und kalt. Die blecherne Lautsprecherstimme des Bahnhofsvorstehers hallte durch die Weite der Halle. Der Bahnsteig war leer. Der Schaffner hatte schon alle Waggontüren geschlossen und war eingestiegen. Aber zuvorderst bei der Treppe, auf der Marie aus der Unterführung auftauchte, war noch eine Tür offen. Dort stand Ernst Walder, den einen Fuß auf dem Bahnsteig, den anderen auf dem Trittbrett. Er half ihr beim Einsteigen, und als sie in einem freien Abteil ins Polster sanken, fuhr der Zug los.
    »Das war knapp!«
    »Was ist mit deinem Schuh?«
    »Absatz abgebrochen.«
    »Zeig her.«
    Marie reichte ihm den Schuh und den Absatz. Er biss sich auf die Lippen, betrachtete beide Teile eingehend und hielt sie aneinander. Fünf verbogene Nägel ragten aus der Sohle an der Stelle, an der der Absatz befestigt gewesen war.
    »Du bist ja ganz außer Atem. Weit gerannt?«
    »Den ganzen Weg die Freie Straße hoch, durch die Elisabethenstraße bis hierher.«
    »Das ist weit.« Ernst nahm den ersten der fünf Nägel zwischen Daumen und Zeigefinger und versuchte ihn geradezubiegen.
    »Ja. Ziemlich weit.«
    »Du hast gestern schon rennen müssen«, sagte er, ohne vom Schuh aufzublicken. »Und zwar in Begleitung.« Der erste Nagel war wieder gerade, jetzt nahm er sich den zweiten vor.
    »Das ist doch … du hast mich verfolgt?«
    »Und heute warst du auch in Begleitung. Hättest ihn nicht vor dem Bahnhof wegzuschicken brauchen.«
    »Du hast mich verfolgt?«
    »Ich habe dich gesehen, und du hast mich gesehen.«
    »Du hast mich verfolgt!«
    »Wir waren verabredet, und du hast mich stehenlassen.« Auch der zweite Nagel war wieder gerade, Ernst packte den dritten.
    Marie schüttelte den Kopf. »Verabredet waren wir gestern, aber nicht heute.«
    »Wir waren verabredet, aber du hast es vorgezogen, mit zwei Männern spazierenzugehen.«
    »Du hast mich verfolgt!«
    »Du bist mit zwei Männern spazierengegangen. Ihr seid in Boote geklettert und habt euch umarmt. Ihr habt Steine geworfen und seid auf Baustellen umhergeklettert und Schlittschuh gefahren – ahh, Gottverdammmich, Gottverdammmich, Gottverdammmich!« Ernst hatte sich versehentlich den

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