Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
Kalksteinquadern, die in der Nacht weiß leuchten.
Dorly und Waldemar gehen nebeneinanderher wie zwei Kutschpferde. Hin und wieder werfen sie einander kurze Blicke zu. »Velte gab mir an, sie befänden sich auf der Durchreise. Sein Vater sei Bauunternehmer, sie müssten nach Spanien reisen wegen bevorstehender baulicher Unternehmungen. Hier in Basel hätten sie ihre Reise unterbrochen, weil sie noch auf einen Bericht warten müssten, der alltäglich eintreffen könne. Mir genügte diese Auskunft, weiter habe ich nicht gefragt. Dass beim ersten Treffen im Globus noch von einer sofortigen Weiterreise die Rede gewesen war, hatte ich vergessen.«
Kurt nimmt Marie bei der Hand und läuft mit ihr voraus. Er führt sie über einen Landesteg auf ein vertäutes Ruderboot und lässt es schaukeln, bis Wasser über die Bootswände schwappt; er bringt sie mit einem Schubser aus dem Gleichgewicht und fängt sie auf, bevor sie ins Wasser fällt, und dann hält er sie eine Sekunde zu lange im Arm; er ahmt den Lockruf der Enten nach, winkt zu Dorly und Waldemar hinüber und kehrt zurück ans Ufer, lässt flache Kiesel übers Wasser tanzen und versucht das Marie beizubringen; er steigt hinauf auf die Dreirosenbrücke, die gerade im Bau ist und deren Stahlträger in der Mitte des Flusses abrupt abbrechen, und immer fliegt Marie neben ihm her; dann klettern die beiden auf den Derik-Kran, der auf dem Brückenstumpf steht, und nur mit Mühe kann sie ihn davon abhalten, auch noch dessen Auslegearm zu besteigen.
Marie weiß nicht, wie ihr geschieht. So einen Spaziergang hat sie noch nie erlebt. Dieser Deutsche führt sie ganz selbstverständlich durch die Nacht, und gleichzeitig scheint er immer im voraus zu wissen, ob sie nach links oder rechts abbiegen oder stehenbleiben will; wenn sie daran denkt, ihr Taschentuch hervorzunehmen, so reicht er ihr schon eines, und zwar ein sauberes, und wenn sie auf den glitschigen Kieseln einen Misstritt tut, ist er blitzschnell da, um sie zu stützen. Und reden kann der. Gelegentlich setzen sie sich auf eine vereiste Bank, um zu verschnaufen. Dann holen Waldemar und Dorly sie ein und setzen sich zu ihnen. Es ist kalt und spät, der Wind beißt, die Füße schmerzen. Die Fenster der Bürgerhäuser erlöschen eins ums andere.
»Fräulein Dorly«, fragt Kurt, »langweilen Sie sich nicht zu sehr?«
»Wir unterhalten uns gut, keine Sorge.«
»Erzählt er Ihnen wenigstens etwas? Sag, erzählst du Fräulein Dorly etwas? Oder gaffst du einfach die ganze Zeit ins schwarze Wasser hinein?« Kurt legt den Arm um Waldemars Schultern und drückt ihn kräftig an sich. »Machen Sie es wie ich, Fräulein Dorly: mit roher Gewalt. Sonst ist da nichts zu machen. Quetschen Sie ihn über irgendetwas aus, zum Beispiel über die Wuppertaler Schwebebahn. Da weiß er Bescheid. Gehen wir weiter, Fräulein Marie? Soll ich Sie dann zum Bahnhof begleiten?«
Kurt Sandweg nimmt Marie an der Hand und verschwindet mit ihr in die Nacht hinaus. Dorly und Waldemar bleiben allein auf der Bank zurück. Lang ist es still.
Dann flüstert Dorly: »Gibt es in Wuppertal eine Schwebebahn?«
Waldemar scharrt mit den Füßen im Kies. »Die ist weltberühmt, zumindest in Wuppertal. Ein horizontaler Eiffelturm sozusagen. Als kleiner Junge war ich schwer fasziniert. Die Schwebebahn war meine persönliche Modelleisenbahn. Ich kannte alle technischen Daten. Die Fahrpläne. Die Entstehungsgeschichte. Alles.«
»Und jetzt?«
Waldemar zuckt mit den Schultern. »Jetzt ist es einfach eine Bahn. Die fährt vom einen Ende Wuppertals ans andere und wieder zurück. Hin und her, hin und her. Jetzt mag ich lieber Zeppeline. Wenn ich einen Zeppelin hätte, würde ich mit Ihnen nach Spanien fliegen, Fräulein Dorly. Vorerst.«
*
»Waldemar Velte berichtete mir in schwärmerischen Worten erst von Wuppertal und dann von Spanien, das eine Republik sei; dass dort der Ackerboden unter die armen Bauern verteilt werde und dass die Frauen Stimmrecht hätten. Ich entgegnete ihm, er solle mir die Schweiz in Frieden lassen. Ich hatte oft das Gefühl, dass er zugleich an Fernweh und Heimweh litt.«
*
Dann schlägt die Uhr vom Münster Mitternacht. Dorly muss nach Hause, die Mutter wartet. Die sitzt Stunde um Stunde in ihren schwarzen Witwenkleidern kerzengerade auf dem Sofa und häkelt und schaut zur Wanduhr mit rotgeränderten Geieraugen, und keinesfalls will sie ins Bett, bevor das Mädchen in den Federn ist. Das ist immer so. Dorly hat alles
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