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Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Titel: Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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vierten Nagel unter den Daumennagel gerammt. Es blutete sofort ziemlich stark.
    »Hör auf zu fluchen!« Marie nahm ein weißes Taschentuch aus ihrer Handtasche und umwickelte seinen Daumen. »Ich kann diese Flucherei nicht ausstehen!« Auf dem Dorf war es guter Brauch, dass Männer fluchten und Frauen dagegen protestierten. Zumindest darin ergänzten sich die Geschlechter aufs schönste.
    »Wie das blutet!«
    »In Boote seid ihr geklettert, und umarmt habt ihr euch. Gottverdammmich, Gottverdammmich. Heute und gestern.«
    »Hör auf zu fluchen. Du hast mich verfolgt! Halt den Daumen in die Höhe, dann blutet’s weniger. Das hätte ich nicht von dir gedacht, dass du mir nachspionierst!«
    »Ich auch nicht. Ich hätte auch nicht gedacht, dass es nötig ist. In Boote seid ihr geklettert, und mit Steinen um euch geworfen habt ihr!« Ernst nahm den Schuh in die rechte, verletzte Hand, und mit der linken nahm er den fünften Nagel in Angriff.
    »Das ist nicht recht von dir, dass du mir nachspionierst! Pass auf, dass du mir nicht den Schuh voll Blut machst.«
    »Ich pass schon auf. Tu nicht so überrascht. Gottverdammmich. Du hast mich gesehen.«
    »Was? Jetzt hör auf zu fluchen. Ich hab dich nicht gesehen. Nimmt mich nur wunder, wieso du ständig den Namen des Herrn im Munde führst. Wo du doch gar nicht an ihn glaubst.«
    »Wieso, ich fluche doch nur.« Ernst Walder hatte sich als junger Mann einen Atheismus angeeignet, den er an manchen Tagen gern herzeigte. Ansonsten war er genauso katholisch wie Marie und alle anderen im Dorf.
    »Du hast mich gesehen«, beharrte er. »Unten bei den Booten, als ich hinter dem Baum stand. Und am Hafen, bei der Güterlok, Gottverdammich, Gottverdammmich. Ich habe gesehen, dass du mich gesehen hast.«
    »Hinter dem Baum? Bei der Güterlok? Das ist jetzt aber wirklich nicht wahr! Ich habe dich nicht gesehen!«
    »Ich will dir noch etwas sagen: Du hast ihn nur umarmt, weil du mich gesehen hast. Vielleicht wärst du noch nicht mal mit auf den Spaziergang gegangen, wenn du mich nicht gesehen hättest – wenn ich es nicht hätte beobachten können.«
    »Das ist nicht wahr! Das nimmst du sofort zurück!« Bisher hatte Marie ihre Empörung nur gespielt, denn sie wusste, dass er genau genommen im Recht war. Aber hier tat er ihr unrecht, jetzt war sie wirklich beleidigt.
    »So, fertig.« Ernst hatte die fünf Nägel in die Nagellöcher geschoben und den Absatz fest gegen die Sohle gedrückt. »Ewig wird das nicht halten, aber für heute geht’s.«
    »Unten am Fluss habe ich dich nicht gesehen, und am Hafen auch nicht! Dass du mich verfolgst und ausspionierst! Das hätte ich wirklich nicht …«
    »Sei still. Ich will nur eines von dir wissen: ob du vorhast, weiterhin am Rhein spazierenzugehen.«
    Marie schwieg.
    »Du kannst es haben, wie du willst.«
    Marie schwieg.
    »Entweder du gehst weiter am Rhein spazieren, oder du gehst nicht mehr am Rhein spazieren.«
    »Dass du mich ausspionierst! Gib jetzt den Schuh her, ich mach mir noch den Strumpf kaputt.«
    »Du kannst es haben, wie du willst. Entweder du gehst weiter am Rhein spazieren, oder du gehst nicht.«
    »Da ist ja Blut im Schuh!«
     
    Undsoweiter.
     
    Nach einer halben Stunde hielt der Zug endlich im Städtchen, und Marie und Ernst stiegen aus. Sie hatten einander alles gesagt und alles so oft wiederholt, dass beiden übel geworden wäre, wenn sie irgendetwas vom Gesagten noch einmal hätten hören oder sagen müssen. Und etwas Neues fiel ihnen nicht ein. Darum schwiegen sie jetzt, und das konnte lange dauern. Im Dorf war es schon vorgekommen, dass zwei Schulbuben einander auf diese Weise anzuschweigen begannen und dass sie tatsächlich kein einziges Wort mehr zueinander sagten, bis der erste runzlig, grau und tot im Sarg lag.
    Der letzte Bus war längst abgefahren. Marie und Ernst stapften schweigend und grollend durch Schnee und Eis hinaus in die Nacht, dem fünf Kilometer entfernten Dorf entgegen – er zehn bis fünfzehn Schritte voraus, sie hinterherhinkend und in beständiger Sorge um ihren linken Schuh. Laut Großvaters Aussage hat der Schuh bis nach Hause gehalten; dem widersprach Großmutter, wie sie grundsätzlich allen seinen Äußerungen widersprach. Sie beharrte darauf, dass sie die letzten zwei Kilometer sogar linksseitig barfuß habe zurücklegen müssen, was ihren Strumpf, die Zehennägel und überhaupt den ganzen Fuß ruiniert habe. Und außerdem habe sie am nächsten Tag mit einer schweren Grippe und vierzig Grad

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