Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
Fieber im Bett gelegen.
9
Ob Marie Stifter in jener Nacht tatsächlich an Grippe erkrankte oder ob sie diese nur vorschützte, um der anstehenden Wahl zwischen zwei großen und gutaussehenden, ansonsten aber durchaus gegensätzlichen Männern auszuweichen – das weiß niemand. Jedenfalls schloss sie sich für die folgenden Tage in ihrer Kammer ein und blieb im Bett. Die Tür öffnete sie niemandem außer ihrer Mutter, die ihr dreimal täglich Tee und Hafergrütze brachte und den Nachttopf leerte. Alle Besucher ließ sie abweisen – insbesondere Ernst Walder, der Tag für Tag vergeblich seine Aufwartung machte, und zwar mit stetig steigender Wut. Er fühlte sich im Recht und brannte darauf, dass Marie endlich ein Minimum an Zerknirschung an den Tag lege, worauf er die Angelegenheit großmütig würde vergessen können. Stattdessen strafte sie ihn für seine Unerbittlichkeit, indem sie ihm die kalte Schulter zeigte. Ernst Walder war grimmig entschlossen, diesen Kampf zu gewinnen. Am fünften Tag brachte er dreizehn langstielige rote Rosen mit. Er schnaubte im Takt seiner Schritte, den Blumenstrauß stieß er vor sich her wie einen Dolch. Die Postmeisterin saß auf der Sitzbank neben der Haustür in der fahlen Wintersonne, streckte die Füße in den Vorgarten und hatte die Hände über den runden Bauch gefaltet. Neben ihr auf der Bank lag Hasso, der Appenzeller Sennenhund, und schlief. Es war Mittag, wie immer wenn Ernst seine Aufwartung machte; mittags hielt der Postmeister sein Nickerchen. Wenn es sich irgend einrichten ließ, ging Ernst einer Begegnung mit dem künftigen Schwiegervater aus dem Weg; denn Postmeister Stifter litt an Jähzorn, der sich am nichtigsten Anlass entzünden konnte. Wenn er sich beispielsweise im Pferdestall zu schaffen machte und im Hafersack eine Ratte rascheln hörte, konnte er blitzschnell in den Sack greifen, die Ratte herausziehen, sich vors Gesicht halten und zudrücken und drücken und drücken, während die Ratte markerschütternd schrie wie ein Säugling, und zwar minutenlang, bis ihr in der Faust des Postmeisters erst die Luft und dann die Lebenskraft ausgingen. Wer je eine Ratte in Todesangst hat schreien hören, weiß: Dazu ist kein gewöhnlicher Mensch imstande. Das konnte nur der Postmeister, und deshalb gingen ihm alle Dörfler nach Möglichkeit aus dem Weg. Jetzt aber hielt er sein Mittagsschläfchen, und der Weg war frei für Ernst Walder.
Er blieb zwanzig Schritte vor der Postmeisterin stehen. »Du bist’s – schon wieder!« brüllte sie in der kehligen und lauten Mundart, die im Basler Hinterland nun mal beheimatet ist. Hasso zuckte mit den Ohren und schlief weiter. Dass der Postmeister durch das Gebrüll im Schlaf gestört werden könnte, war nicht zu befürchten. Wenn er schlief, schlief er.
»Ja, ich schon wieder!« brüllte Ernst zurück. Zwar hatte er das Lehrerseminar im nahen Städtchen besucht und dort gelernt, dass man nicht unbedingt immer und überall brüllen muss. Aber wenn es sein musste, konnte er so laut brüllen wie irgendeiner hier im Dorf. Jetzt musste es sein.
»Ich habe Blumen mitgebracht!« brüllte er. Dabei schaute er nicht die Postmeisterin an, sondern das Fenster rechts außen unter dem Dach, das einen Spalt offen stand.
»Ich habe dir doch gesagt, sie ist krank!« brüllte die Postmeisterin. »Gestern habe ich es dir gesagt! Vorgestern habe ich es dir gesagt!! Und vorvorgestern habe ich es dir gesagt!«
»Ich habe mir gedacht, vielleicht ist sie heute nicht mehr krank!«
»Sie ist aber noch krank!«
»Es sind rote Rosen!« brüllte Ernst zum Fenster hinauf und wischte mit dem Strauß durch die Luft, dass ein paar Blütenblätter abfielen. »Dreizehn Stück! Importware! Aus der Stadt!«
»Rosen! Mitten im Winter!« Die Postmeisterin prüfte die Blumen mit strengem Fernblick. »Das hätte dir auch früher in den Sinn kommen können, dem armen Luder mal etwas mitzubringen! Jetzt, wo sie krank ist, hat’s keinen Zweck!«
»Ich kann ihr die Blumen ja aufs Zimmer bringen!«
»Was fällt dir ein! Ich habe es dir gestern gesagt und vorgestern und vorvorgestern! Du hast dem Kind schon übel genug mitgespielt!«
»Ich! Dem Kind! Mitgespielt!« Ernst Walder verschlug es die Sprache ob dieser ungerechten Deutung der Ereignisse. Er hob nach Lehrerart die rechte Hand, in der er den Blumenstrauß hielt, und wollte zu einer Rede ansetzen. Aber da sah er das kampflustig vorgereckte Kinn der Postmeisterin, kapitulierte und streckte ihr den Strauß
Weitere Kostenlose Bücher