Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
entgegen.
»Die Blumen! Kann man ihr wenigstens die zukommen lassen!« Er hatte das als Frage gemeint – aber wenn man brüllt, klingt alles wie ein Befehl. »Oder soll ich sie den Kühen verfüttern!« Er hätte schwören können, dass sich beim obersten Fenster rechts außen gerade die Gardinen bewegt hatten.
»Das Dornenzeug fressen die Kühe doch nicht! Gib halt her!« Die Postmeisterin stand auf und streckte ihm ihren fleischigen Arm entgegen. Ernst machte die zwanzig Schritte zu ihr hin und gab ihr den Strauß, worauf sie sich grußlos umdrehte und die Treppe zur Haustür hochstieg.
»Bringen Sie ihr die Blumen jetzt gleich?« fragte er. Seine Stimme bebte vor Zorn, und eine dicke blaue Ader zeichnete sich auf der Stirn ab.
»Ja!« brüllte die Postmeisterin und verschwand im Flur. Hasso blieb liegen und schlief.
»Sofort!«
»Ja doch!«
»DANN FRAGEN SIE SIE DOCH AUCH GLEICH, OB SIE MICH HEIRATEN WILL!« Die Haustür fiel ins Schloss, und eine Sekunde später schlug mit lautem Knall auch das Fenster rechts außen unter dem Dach zu. Dabei sei eine Scheibe aus dem Fensterrahmen gefallen und auf dem Vorplatz zerbrochen, nur eine Handbreit neben Hasso, versicherte mir Großvater sechsundvierzig Jahre später, als wir gemeinsam die Brombeerhecke stutzten. Großmutter hat auch das energisch dementiert.
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Als Marie Stifter am sechzehnten Dezember erstmals unentschuldigt der Arbeit fernblieb, bat der Globus-Personalchef das Arbeitsamt um halb zehn Uhr telefonisch um eine neue Aushilfsverkäuferin. Um elf fing die neue an, und Marie ist zeitlebens keiner bezahlten Arbeit mehr nachgegangen.
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Ohne Maries Begleitung wollte Dorly Schupp »nicht zum Rendezvous mit Sandweg und Velte gehen, da mir das eben zu sehr nach einem Rendezvous ausgesehen hätte. Ich habe Marie eigens noch nach Hause telefoniert, um zu wissen, ob sie abends nach Basel komme. Sie kam nicht selbst an den Apparat, ließ aber durch ihre Mutter ausrichten, sie sei krank und könne nicht kommen. Darauf wollte ich die Verabredung absagen. Da ich aber nicht wusste, in welcher Pension Sandweg und Velte logierten, konnte ich die beiden nicht verständigen. Ich betrachtete es deshalb als meine Pflicht, mich wenigstens für ein paar Minuten am Treffpunkt bei der Litfaßsäule zu zeigen. Als ich dann aber dort war, entspann sich zwischen Velte und mir ein interessantes Gespräch, dessen Inhalt ich mich jetzt nicht mehr entsinne, das ich aber nicht abbrechen wollte. Wir gingen deshalb wie an den Abenden zuvor spazieren, diesmal halt zu dritt statt zu viert. Es schneite und war sehr kalt. Die Route führte wiederum über die Mittlere Rheinbrücke zum Unteren Rheinweg, zum Schaffhauserrheinweg und zur Grenzacherstraße, über die Eisenbahnbrücke zum Albanrheinweg, von da die Treppe hoch zur Wettsteinbrücke und durch die Rittergasse zum Globus, wo wir Abschied nahmen.«
Am folgenden Mittag kaufen Waldemar und Kurt bei Dorly ihre vierte Schallplatte und bestellen die fünfte. Es ist der siebzehnte Dezember 1933 , der fünfte Tag ihrer Bekanntschaft. Abends gehen sie mit ihr am Rhein spazieren. Am achtzehnten Dezember kaufen sie wieder eine Schallplatte und gehen abends spazieren, am neunzehnten, zwanzigsten und einundzwanzigsten ebenfalls, am zweiundzwanzigsten und dreiundzwanzigsten auch und immer so weiter über die Festtage hinweg bis in den Januar hinein.
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Es muss an einem Abend kurz vor Weihnachten sein, als Kurt Sandweg am Eingang des Kaufhauses Rheinbrücke einen Fotoautomaten entdeckt – einen Photomatonkasten, wie das Gerät damals hieß. An das genaue Datum konnte sich Dorly Schupp in der polizeilichen Vernehmung später nicht mehr erinnern.
»Fräulein Dorly, lassen Sie uns ein paar Erinnerungsfotos machen!«
»Bitte, nur zu.«
»Mit Ihnen! Wir alle drei!«
»Nein, vielen Dank.«
»Jetzt kommen Sie doch!«
»Du meine Güte, nein. Dann soll ich womöglich auch noch Grimassen schneiden und mich mit Ihnen küssen.«
»Aber nein, wir machen Erinnerungsfotos! Drei Fotos von jedem von uns, dann bekommt jeder ein Bild von sich und von den anderen.«
»Lieber nicht.«
»Fräulein Dorly, wir reisen bald ab – ein Abschiedsgeschenk!«
Dorly lacht und geht weiter, am Photomatonkasten vorbei.
»Fräulein Dorly!«
»Lass gut sein, Kurt.« Waldemar zieht seinen Freund, der Dorly hinterherlaufen will, am Ellbogen zurück. »Fräulein Dorly möchte keine Spuren hinterlassen. Keine Beweismittel.« Er spricht leise,
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