Faszinierend wie der Kuss des Herzogs
Augen voller Entschlossenheit, von leise raschelnden rosa und weißen Musselinröcken umflattert, eilte Thalia in den Salon. Mit einer behandschuhten Hand umklammerte sie den zusammengerollten „Antigone“-Text. Clio folgte ihr etwas langsamer. Dann blieb sie im Hintergrund des Raums stehen und sondierte das Terrain.
Die Gastgeberin hielt vor dem wuchtigen Marmorkamin Hof, in einem Kleid aus rot und bronzefarben gemustertem Brokat, einen Turban mit hohen Federn auf den Locken. An ihrer Seite saß Ronald Frobisher, ihr „spezieller Freund“ – oder Schoßhund, wie Clio ihn manchmal nannte, ein gertenschlanker Mann mit schönen braunen Augen und weichem dunklem Kraushaar. Er behauptete, von dem berühmten Seefahrer Martin Frobisher abzustammen. Aber sein Leben schien nur aus affektiertem Getue zu bestehen. Angeregt plauderten die beiden mit den eintreffenden Gästen. Dabei behielt Lady Riverton die Tabletts mit den Weingläsern und den Hummertörtchen stets im Auge.
In einer Ecke nahe der Bühne erhoben sich zwei Statuen, Verkörperungen der Tragödie und der Komödie. Clio trat dahinter und beobachtete die Anwesenden. Offenbar waren alle Engländer erschienen, darunter die Darbys, die Elliotts und das junge Ehepaar Manning-Smythe, auch die vornehmen sizilianischen Familien, die sich noch nicht nach Neapel begeben hatten. Die meisten Italiener blieben unter sich und bildeten Gruppen am anderen Ende des Raums. Herablassend beehrten sie die Party der Ausländerin mit ihrer würdevollen Anwesenheit.
Sind sie hauptsächlich wegen des Essens gekommen, fragte sich Clio, so wie mein Vater? Belustigt sah sie, wie eine der Sizilianerinnen ein Hummertörtchen in ihr Retikül steckte. Oder vielleicht wollten sie die Antiquitäten in Lady Rivertons Palazzo begutachten.
Thalia wanderte durch den Salon, von ihrem ergebenen Verehrer Peter Elliott gefolgt, der jetzt ihr Manuskript trug. Sir Walter hatte sich zu Lady Rushworth gesellt. Gemeinsam studierten sie die alten Münzen des verstorbenen Viscounts in einer der Vitrinen.
Also hatten sich alle erwarteten Geladenen eingefunden. Nur der Duke ließ sich nirgends blicken. Wäre er hier, würde ich seine Gegenwart zweifellos spüren, selbst wenn ich ihn nicht sähe, dachte Clio.
Während die Minuten verstrichen, schien Lady Rivertons Lächeln zu gefrieren. Immer öfter spähte sie zur Tür. Auch sie vermisste ihren prominentesten Gast. Schließlich ergriff sie Mr. Frobisher am Arm, flüsterte ihm etwas zu, und er entfernte sich hastig – anscheinend, um einen Auftrag zu erledigen.
Jemand trat neben Clio. Nicht Edward, das fühlte sie.
„Ah, cara“, murmelte Marco, „welch eine amüsante kleine Fête! Ihr Engländer seid immer so unterhaltsam. Das fehlt mir, seit ich eure Küste verlassen habe.“
Lächelnd wandte sie sich zu ihrem alten Freund und Komplizen in diebischen Zeiten. Wie sie zugeben musste, sah er sehr attraktiv aus, ein junger römischer Gott mit dunklen Augen und breiten Schultern, ausgeprägten Wangenknochen und glatter olivenfarbener Haut. Zweifellos hatte er auf den Reisen von Florenz nach London und zurück eine Spur gebrochener Herzen hinterlassen und dies kaum wahrgenommen.
Aber in seiner Nähe empfand Clio niemals die verwirrenden Emotionen, die Edward erregte. Niemals raubte er ihr den Atem, niemals beschleunigte er ihren Puls. Marco war einfach nur ein Freund, sie verstanden und halfen einander. Bedauerlich, dachte sie, denn eine engere Beziehung zu ihm wäre längst nicht so kompliziert wie die unerwünschte Sehnsucht nach Averton. Und viel ungefährlicher …
„Also bist du doch nicht nach Palermo gefahren“, bemerkte sie.
„Sollte ich diese wunderbare Party versäumen? Auf keinen Fall! Insbesondere, weil ich herausfand, ich würde dich hier treffen, cara. So lange haben wir uns nicht gesehen.“ In seinen schokoladenbraunen Augen erschien ein schmachtender, liebeskranker Ausdruck, der sie zum Lachen brachte.
„Wie schamlos du bist, Marco!“
Da stimmte er wehmütig in ihr Gelächter ein und nahm zwei gefüllte Weingläser vom Tablett eines Lakaien, der an ihnen vorbeiging. „Ah, Clio, auf dich hat mein Charme stets jede Wirkung verfehlt. Werde ich allmählich alt? Verliere ich meine romantische Anziehungskraft?“
„Keine Bange, ich kenne dich einfach nur zu gut. Jedenfalls bist du der schönste Mann, der mir je begegnet ist, und du wirst in Santa Lucia zahlreiche Herzen erobern. Ich glaube, Susan Darby ist bereits in dich
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