Fata Morgana
Aber sie schienen den jungen Mann keineswegs zu besänftigen, sondern brachten ihn nur noch mehr in Harnisch.
Unwillkürlich schwiegen alle im Raum. Angespannt lauschten sie dem, was da hinter der verschlossenen Tür vorging.
»Du hörst mir jetzt zu«, brüllte Edgar. »Dein überhebliches Getue wird dir schon noch vergehen. Ich werde mich rächen, verlass dich drauf, rächen für alles, was du mir angetan hast!«
Die andere Stimme wurde plötzlich herrisch, hatte nichts mehr von Lewis' gewohntem Gleichmut.
»Runter mit dem Revolver!«
Gina schrie auf: »Der bringt ihn um! Der ist verrückt! Können wir nicht die Polizei holen oder so was?«
Carrie Louise, nach wie vor ungerührt, sagte leise: »Kein Grund zur Sorge, Gina. Edgar hat Lewis gern. Er spielt nur Theater, glaub mir.«
Jetzt kam ein Lachen durch die Tür, das in Miss Marples Ohren definitiv wie das eines Irren klang.
»Ja, ich habe einen Revolver – und er ist geladen. Nein, sag nichts, rühr dich nicht vom Fleck. Du wirst mich bis zu Ende anhören. Du hast die Verschwörung gegen mich angezettelt, und jetzt musst du dafür büßen.«
Ein Knall wie von einer Schusswaffe ließ sie alle zusammenfahren, aber Carrie Louise sagte: »Alles in Ordnung, das war draußen – irgendwo im Park.«
Hinter der verschlossenen Tür tobte Edgar mit sich überschlagender Stimme. »Da sitzt du und schaust mich an – schaust mich an und tust so, als ginge dich das alles nichts an. Willst du nicht lieber auf die Knie fallen und um Gnade flehen? Ich schieße, ich sag's dir. Ich knall dich ab! Ich bin dein Sohn – dein verleugneter, verachteter Sohn. Du wolltest mich verstecken, vielleicht sogar ganz beiseite schaffen. Du hast deine Spione auf mich angesetzt – sie sollten mich zur Strecke bringen – du hast gegen mich intrigiert. Du, mein eigener Vater! Mein Vater. Ich bin nur ein Bastard, stimmt's? Nur ein Bastard. Nichts als Lügen hast du mir aufgetischt. Hast freundlich getan, und dabei – und dabei – du hast dein Leben verwirkt. Hier kommst du nicht mehr lebend raus.«
Wieder kam ein Schwall übler Beschimpfungen. Irgendwann merkte Miss Marple, dass Miss Bellever »Wir müssen etwas unternehmen« sagte und den Raum verließ.
Edgar holte offenbar Luft, dann schrie er: »Du wirst sterben – sterben wirst du. Du stirbst jetzt. Nimm das, du Teufel, und das!«
Zwei Schüsse knallten, diesmal nicht im Park, sondern eindeutig hinter der verschlossenen Tür.
Irgendjemand, Miss Marple meinte, es sei Mildred, rief aus: »O mein Gott, was sollen wir nur tun?«
Aus dem Arbeitszimmer kam ein dumpfer Schlag und dann ein anderes Geräusch, schrecklicher fast als alles, was vorangegangen war – ein langsames, qualvolles Schluchzen.
Jemand ging entschlossen an Miss Marple vorbei und begann, an der Tür zu rütteln. Es war Stephen Restarick.
»Aufmachen! Mach die Tür auf!«, schrie er.
Miss Bellever kam in die Halle zurück, in der Hand verschiedene Schlüssel. »Probieren Sie die mal«, sagte sie atemlos.
In diesem Moment gingen die Lichter wieder an. Nach der unheimlichen Düsterkeit erwachte der Raum wieder zum Leben.
Stephen Restarick fing an, die Schlüssel auszuprobieren. Man hörte drinnen den Schlüssel herunterfallen. Das hemmungslose Schluchzen ging weiter.
Walter Hudd, der träge in die Halle geschlendert kam, blieb wie angewurzelt stehen und fragte: »Nanu, was ist denn hier los?«
Mildred sagte unter Tränen: »Dieser schreckliche junge Verrückte hat Mr Serrocold erschossen.«
»Bitte.« Das hatte Carrie Louise gesagt. Sie stand auf und ging zur Tür des Arbeitszimmers. Sanft schob sie Stephen Restarick zur Seite. »Lass mich mit ihm sprechen.«
Leise rief sie: »Edgar – Edgar – lassen Sie mich hinein, ja? Bitte, Edgar.«
Sie hörten, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Er drehte sich, und langsam ging die Tür auf.
Aber auf der Schwelle stand nicht Edgar, sondern Lewis Serrocold. Er atmete schwer, als wäre er gerannt, aber sonst war er ganz gelassen.
»Es ist alles in Ordnung, Liebste«, sagte er. »Liebste, es ist alles in Ordnung.«
»Wir dachten, Sie seien erschossen worden«, sagte Miss Bellever schroff.
Lewis Serrocold runzelte die Stirn. »Unsinn, natürlich bin ich nicht erschossen worden«, sagte er ein wenig gekränkt.
Man konnte jetzt ins Arbeitszimmer sehen. Edgar Lawson war am Schreibtisch zusammengebrochen. Er keuchte und schluchzte. Der Revolver lag auf dem Boden, wo er ihm aus der Hand gefallen
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