Fata Morgana
allem gesteckt hat. Er war die ganze Zeit mein Feind! Er hat mich beschatten und bespitzeln lassen. Aber jetzt werde ich ihm das Handwerk legen. Ich werde reden. Ich werde ihm sagen, dass ich weiß, was er getrieben hat.«
»Wer ist › er‹?«, wollte Miss Marple wissen.
Edgar Lawson baute sich zu seiner vollen Größe auf. Er hätte tragisch und würdig aussehen können. Aber er wirkte nur lächerlich.
»Ich spreche von meinem Vater.«
»Viscount Montgomery? Oder meinen Sie Winston Churchill?«
Edgar warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Die haben mich bloß in dem Glauben gelassen, damit ich die Wahrheit nicht errate. Aber jetzt weiß ich Bescheid. Ich habe einen Freund – einen echten Freund. Einen Freund, der mir die Wahrheit sagt und mir vor Augen führt, wie furchtbar ich betrogen wurde. Aber jetzt! Von nun an muss mein Vater mit mir rechnen. Ich werde ihm seine Lügen um die Ohren hauen! Ich werde ihn mit der Wahrheit konfrontieren. Ich bin gespannt, was er dazu sagen wird.«
Er riss sich abrupt los, rannte davon und verschwand im Park.
Mit besorgter Miene ging Miss Marple zum Haus zurück.
»Wir sind alle ein bisschen verrückt«, hatte Dr. Maverick gesagt.
Aber es hatte den Anschein, dass es in Edgars Fall noch viel weiter ging.
II
Lewis Serrocold kam um halb sieben zurück. Er stellte den Wagen am Tor ab und ging durch den Park zum Haus. Durchs Fenster sah Miss Marple, wie Christian Gulbrandsen ihm entgegenging, und nachdem die beiden Männer einander begrüßt hatten, gingen sie auf der Terrasse auf und ab.
Miss Marple beobachtete gern Vögel und hatte zu diesem Zweck ihr Fernglas mitgebracht. Jetzt war der Augenblick gekommen, es zu benutzen. Irrte sie sich, oder hatte sie dort in der fernen Baumgruppe einen Zeisigschwarm entdeckt?
Als das Fernglas nach unten kippte, bevor sie es auf die Bäume richtete, stellte sie fest, dass beide Männer ernsthaft besorgt schienen. Sie lehnte sich weiter hinaus. Hin und wieder wehten Gesprächsfetzen herauf. Sollte einer der beiden Männer hochschauen, musste er annehmen, dass da eine Vogelfreundin gespannt auf einen Punkt blickte, der weit von ihrem Gespräch entfernt war.
»...wie ich Carrie Louise mit der Neuigkeit verschonen...«, sagte Gulbrandsen gerade.
Als sie das nächste Mal unter dem Fenster vorbeikamen, sprach Lewis Serrocold. »...wenn man es überhaupt vor ihr verheimlichen kann. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass wir vor allem an sie denken müssen...«
Noch andere Gesprächsfetzen drangen ans Ohr der Lauschenden. »Wirklich ernst«... »nicht gerechtfertigt«... »eine zu große Verantwortung«... »vielleicht sollten wir uns Rat von außerhalb holen«...
Schließlich hörte Miss Marple Christian Gulbrandsen sagen: »Ach, es wird kalt. Wir müssen hineingehen.«
Miss Marple zog den Kopf zurück. Was sie gehört hatte, war zu bruchstückhaft, um sich zu einem Ganzen zusammensetzen zu lassen, aber es bestätigte die vage Besorgnis, die nach und nach von ihr Besitz ergriffen und die auch Ruth Van Rydock empfunden hatte.
Was immer in Stonygates im Argen lag, es betraf eindeutig Carrie Louise.
III
Beim Abendessen herrschte eine recht verkrampfte Atmosphäre. Sowohl Gulbrandsen als auch Lewis waren geistesabwesend und offenbar in Gedanken versunken. Walter Hudd blickte noch finsterer drein als sonst, und ausnahmsweise hatten Gina und Stephen sich oder den anderen kaum etwas zu sagen. Das Gespräch wurde überwiegend von Dr. Maverick bestritten, der eine längere fachliche Diskussion mit Mr Baumgarten führte, einem der Beschäftigungstherapeuten.
Als man sich nach dem Essen in die Halle begab, entschuldigte sich Christian Gulbrandsen schon nach wenigen Minuten. Er habe noch einen wichtigen Brief zu schreiben.
»Also, wenn du mich entschuldigst, liebe Carrie Louise, gehe ich jetzt auf mein Zimmer.«
»Hast du alles, was du brauchst? Jolly?«
»Ja, ja. Alles. Ich habe um eine Schreibmaschine gebeten, und es wurde mir eine hingestellt. Miss Bellever ist überaus freundlich und aufmerksam.«
Er verließ die Große Halle durch die linke Tür und ging den langen Flur entlang, an dessen Ende sich ein Gästezimmer mit eigenem Bad befand.
Als er weg war, sagte Carrie Louise: »Gehst du heute Abend nicht ins Theater, Gina?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie setzte sich an das Fenster mit Blick auf die Auffahrt und den Hof.
Stephen warf ihr einen Blick zu und schlenderte dann zum Konzertflügel hinüber.
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