Fatales Vermächtnis
und standen am Nachmittag auf dem schmalen Gipfel, auf dem drei besonders zähe Bäumchen ihre Wurzeln in den Stein geschlagen hatten. Der Ausblick war gigantisch und zugleich beängstigend.
»Da drüben«, sagte Lorin mit erstickter Stimme, »ist meine Heimatstadt. «
Über Bardhasdronda stand eine schwarze Qualmwolke, die sich aus vielen kleinen, kräuselnden Rauchsäulen speiste. Aus der stolzen Siedlung war ein einziges Trümmerfeld geworden. Lorin drohten die Beine zu versagen; ohne den Halt des Baumstamms wäre er eingeknickt und den Berg hinab gefallen. »Ich komme zu
spät. Sie sind tot...« Jarevräns Gesicht erschien vor seinem inneren Auge. »Nein ...« Estra spürte, dass es nun an ihr war, Trost zu spenden. »Wir
sehen eine zerstörte Stadt, aber mehr nicht. Vielleicht ist deinen Leuten die Flucht gelungen. Die Qwor werden sie sicherlich nicht überrascht haben.« Sie sah sich weiter um und wollte eigentlich etwas Aufmunterndes hinzufügen, aber die unzähligen dunkelgrauen und schwarzen Schwaden rings um sie herum ließen sie Schlimmes befürchten. Wenn jeder Brandherd für eine Siedlung stand, hatten die Qwor schrecklich gehaust.
Dann entdeckte Estra ein merkwürdiges Gespann auf einer Straße, die tiefer landeinwärts führte: Ein Reiter auf einem Schimmel, neben dem eine enorme Menschenartige Kreatur mit zwei langen Hörnern herlief. »Da sind sie!«, rief sie erfreut und deutete hinab. »Da sind Tokaro und Gän.«
Lorin kannte den Weg, den sie nahmen. »Wohin wollen sie? Sie marschieren an Bardhasdronda vorbei.«
»Sie waren sicherlich schon dort und haben uns nicht gefunden«, folgerte sie. »Wir müssen ihnen nach!« Estra suchte nach einer geeigneten Stelle für den Abstieg.
»Ich will zuerst nach Bardhasdronda«, hielt Lorin dagegen. »Ich möchte Gewissheit, was Jarevrän und meine ganzen Freunde angeht.«
Sie wandte sich zu ihm. »Aber wenn wir Gän und Tokaro verlieren? Sie sind außerdem viel schneller unterwegs als wir. Wenn der Nimmersatte einen Schritt macht, brauche ich vier.«
Doch Lorin wollte nicht aufgeben. »Gän wird überall auffallen, wir finden sie immer wieder.«
Estra kletterte nach unten, das Kleid behinderte sie nicht weiter. »Dann geh du nach Bardhasdronda und komm uns nach«, entschied sie. »Ich möchte die beiden so rasch wie möglich einholen.«
Lorin sah auf die vernichtete Stadt. Was tue ich, wenn Fatja, Arnarvaten und die anderen von den Qwor ermordet worden sind? Will ich diese Gewissheit wirklich, oder benötige ich die Hoffnung, sie lebend anzutreffen? Lorin betrachtete Estra und
dachte an ihre Verwandlung. Er schluckte und machte sich an den Abstieg. Schweigend liefen sie quer durch den dichten Nadelwald und brauchten bis zum Abend, um die Straße zu erreichen, die sie von der Bergspitze aus gesehen hatten. Als Estra den Weg nach Osten einschlug, wich Lorin nicht von ihrer Seite.
Er hatte sich für die vage Hoffnung entschieden.
V.
Kontinent Ulldart, Nordwesten Borasgotans, Kulscazk, Spätfrühling im Jahr 2 Ulldrael des Gerechten (461 n.S.)
Zeig es mir«, befahl Vahidin, die Hand am Griff seines Schwertes.
»Aber es ist tot, Herr!«, rief die ältere Hebamme. Sie hatte sich vor der Tür aufgebaut und verteidigte den Zutritt, obwohl sie wusste, wem sie gegenüberstand. »Es kam zu früh ...«
»Es kam recht!«, schrie er sie an und stieß sie aus dem Weg. Sie prallte gegen die Wand und verlor ihre Haube, während er die Kammer betrat.
Vahidin befand sich in einer der kleineren Hütten am Dorfrand. Mit dieser jungen Frau hatte er als Erster auf seiner Liste eine Nacht verbracht. Der Same war aufgegangen und ihr Bauch rasch gewachsen, wie ihm seine treuen Tzulani gemeldet hatten.
Er sah die schwarzhaarige Frau, deren Name er ohne seinen Zettel nicht einmal mehr wusste, erschöpft im Bett liegen. Zwei ältere Frauen hatten blutige Tücher in eine Wanne gelegt. Vahidin entdeckte eine zarte Hand unter dem Stoff; sofort eilte er heran und deckte den kleinen Leib auf. Das Neugeborene besaß die richtige Größe, etwa unterarmlang und gut entwickelt. In dem halboffenen Mund schimmerten spitze Zähne auf, und auf dem Kopf sah er dünnes, silbernes Haar. Die Herkunft ließ sich nicht verbergen. Die magentafarbenen Augen starrten tot an die Decke, das Gesicht war blau angelaufen.
»Es ist erstickt, Herr«, wimmerte die zweite Hebamme, und sie wichen vor ihm neben das Bett der Mutter zurück. »Die Nabelschnur hatte sich um den Hals
Weitere Kostenlose Bücher