Fatales Vermächtnis
das? So hilfst du uns nicht!«
»Lorin, ich möchte dich lieben«, hauchte sie und drückte sich an ihn, und ihre Stimme klang nicht wie ihre eigene. »Es soll meine letzte Tat sein, bevor ich sterbe.«
»Du liebst Tokaro, Estra, und ich gehöre Jarevrän«, wies er sie zurück. »Verflucht, was ist mit dir?«
Endlich hatte er sich aus ihren Armen befreit und machte zwei schnelle Schritte weg von ihr in die Dunkelheit. »Erinnere dich: Wir haben über uns schon gesprochen, und ich werde mein Weib und meinen Bruder nicht hintergehen.«
»Wir werden sterben«, sagte sie hohl und kam auf ihn zu. »Bitte...«
Er wich vor ihr zurück. »Und selbst wenn, steht mir keinesfalls der Sinn danach, mich mit dir zu vergnügen. Bei Kalisstra! Komm zu dir, Estra!«
Im nächsten Augenblick glommen zwei kleine grellgelbe Sonnen im Tunnel auf. Es dauerte nicht lange, bis er sie als ein Augenpaar erkannt hatte. Das Licht beschien Estras verzerrte Züge, sie wirkte dämonisch und schrecklicher als jede Albtraumgestalt. Sie hatte den Mund halb geöffnet, Gier und Verlangen lagen auf dem Antlitz.
»Ich kann nichts dafür, Lorin«, flüsterte sie und hob den rechten Arm, um nach ihm zu greifen. »Es hat Macht über mich und treibt mich an, zwingt mich, Dinge zu tun, die ich nicht tun will.« Die Finger stießen nach vorne, und er sprang zurück. Sie riss einen Fetzen Stoff aus seiner Jacke und warf ihn mit einem enttäuschten Aufkreischen ins Wasser. »Bleib! Ich bin hungrig! Hungrig nach so vielem!«
»Bleiche Göttin schütze mich!« Lorins Erinnerung an den Tag des Schiffsuntergangs kehrte schlagartig zurück: Er hatte sie beobachtet! Er hatte eine Gestalt gesehen, die sich an einem der Matrosen gelabt hatte, und diese Gestalt war Estra gewesen.
»Es ist der gleiche Fluch, an dem bereits meine Mutter litt«,
sagte sie. »Ich habe mich vor dem Tag gefürchtet, an dem er ausbricht, und auf dem Schiff gab es kein Halten mehr. Ich kann es nicht aufhalten, es ist stärker als ich, als mein Wille...« Estra hob die Arme, doch es hatte den Anschein, als gehorchten ihre Gliedmaßen nur langsam, widerwillig. Sie schluckte, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und auf ihrer Miene stand trotz der Wildheit für einen winzigen Augenblick deutliche Scham. Dann versuchte Estra wieder, ihn zu packen. Lorin zog den Kopf ein und ging rückwärts. »Was immer es ist, kämpfe dagegen an. Du wirst uns sonst beide umbringen!« Er überlegte, ob er sie niederschlagen sollte. Da sprang sie ihn an. Gemeinsam fielen sie ins Wasser, und ihre brutale Umarmung trieb ihm die Luft aus den Lungen. Ihre Kraft lag bei Weitem über dem, was eine junge Frau ihrer Statur besitzen durfte. Es gelang ihm nicht, sich zu befreien, dann spürte er eine Berührung am Hals. Zärtliche Lippen legten sich daran - und Estra biss zu.
Lorins Schrei wurde vom Meer ertränkt. Er bäumte sich auf und drückte Estra nach oben. Sie prallten gegen etwas, und er kam an die Oberfläche.
Keuchend sog er Luft ein, während sich der Griff seiner Angreiferin gelockert hatte. Sie musste mit der Tunneldecke kollidiert sein. Rasch wand er den rechten Arm frei und schlug ihr gegen den Kopf, sodass auch die letzte Spannung aus ihrem Körper wich.
Ein lautes Gurgeln erklang in dem sich weiterhin verjüngenden Tunnel. Die Geräusche, die auf sie zuhielten, versprachen eine enorme Woge, die durch den Gang rollte. Alsdann schlug sie über den beiden zusammen und schob sie unnachgiebig vorwärts.
Lorin versuchte, Estra zu fassen, aber sie glitt an ihm vorbei. Er fühlte sich wie ein Pfropfen, die Felswände schabten an ihm und zerrissen seine Kleidung, Haut wurde abgeschürft. Allmählich wurde ihm der Atem knapp.
Abrupt ging es in völliger Dunkelheit nach oben, und der Schacht wurde wieder enger, sodass Lorin fürchtete stecken zu bleiben.
Sein Bewusstsein schwand, doch gerade, als er ohnmächtig zu
werden drohte, flammte Sonnenlicht auf!
Lorin hatte das Gefühl zu fliegen, der Druck der Röhre war verschwunden. Noch immer war er umgeben von Wasser, aber es erlaubte ihm, die Lungen mit Luft zu füllen. Gleich darauf sah er auch blinzelnd den Grund dafür: Er stürzte in einer Kaskade nach unten, auf einen Weiher zu!
Der Einschlag traf seinen ganzen Leib. Es kostete ihn Kraft, sich ein weiteres Mal nach oben zu strampeln. Hustend kam er an die Oberfläche und sah ein von Laubbäumen gesäumtes Ufer. Er schwamm, bis er Grund unter den Füßen spürte, und watete an Land. Erleichtert sank
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