Fatales Vermächtnis
wisperte Boguslawa voller Grausen.
War sie tot und zu einem Geist geworden?
Sie flog trotz allem Widerstand zurück auf den Marktplatz, wo sich eine große rotierende Wolke aus Lichtern gebildet hatte.
Getrieben von einem unerklärlichen Drang, reihte sie sich unter ihnen ein und sah, dass sich im Mittelpunkt der Brunnen mitsamt der vermeintlichen Bettlerin befand. Boguslawa erschrak noch mehr: Aus dieser Perspektive sah die Frau viel furchtbarer aus. Sie wurde von einer schwarz-roten Aura umgeben, die sich unentwegt bewegte und wie Flammen um sie loderte. Solche Angst hatte die Magd ihr ganzes Leben nicht verspürt.
»Seelen«, vernahm sie die heisere Stimme der Frau, »ihr seht eure neue Meisterin! Ich habe euch an mich gebunden und werde euch nähren mit meinem Blut, auf dass ihr an Macht gewinnt.«
Boguslawa wollte aufschreien und aufbegehren, doch die unsichtbare Kraft der Frau bezwang ihren Willen. Sie fühlte sich wie ein widerborstiger Hund, der an seiner Kette zog und zerrte, doch der Besitzer am anderen Ende war zu stark. Der Klang der Stimme genügte, um sie gehorchen zu lassen.
»Wenn ihr euch verhaltet wie ich es von Dienern erwarte, werde ich euch bald in die Freiheit entlassen. Andernfalls jedoch ahnde ich jeden Verstoß mit Vernichtung.« Sie langte abrupt in die Wolke, und zwei der schwirrenden Lichter zerstoben und zerspritzten gleich einem aufschlagenden Wassertropfen. Je weiter
sich die glimmenden Teile voneinander entfernten, desto mehr verloren sie ihre Leuchtkraft, bis sie verschwanden. Restlos.
»Mein Name«, brannte sich die Stimme der Frau in Boguslawas Ohren, »ist Zvatochna. Seid gefügig, und der Albtraum ist rasch
zu Ende.«
Boguslawa roch Blut. Selten zuvor hatte sie solchen Hunger verspürt, und das war ihr gleichzeitig unerklärlich. Wenn sie gestorben war, weswegen verlangte es sie nach Blut? Was hast du mir angetan?, dachte sie und starrte ihre Herrin an. Ein weiteres Mal versuchte sie zu flüchten, doch mehr als ein kaum merkliches Zucken gelang ihr nicht.
Auf der anderen Seite der um sich selbst kreisenden Lichtwolke sah sie breite, rote Rinnsale in den Gossen. Die Seelen, welche Zvatochna vorher schon zu Willen gewesen waren, zerschmetterten die Leichen oder rissen ihnen die Adern auf, damit sich das Blut verteilte und durch die Gassen und Straßen lief wie Wasser nach einem Regenschauer. Eine große Lache bildete sich rund um den Brunnen.
Zvatochna bewegte sich vorwärts, und die Seelen wanderten mit ihr, hielten sie stets im Kern ihrer Wolke.' Sie streifte die Ärmel hoch und ritzte sich mit einem langen, dünnen Messer die Arme auf. Es waren flache Schnitte, ihr Blut war zu kostbar, um es zu verschwenden. Sie gab nur das Nötigste. Wohldosierte Tropfen sickerten heraus und rannen beinahe schwarz über die Haut, bis sie in die riesige Lache tropften und kleine Wellen auslösten. Der Geruch, der von dem Blut ausging, intensivierte sich und steigerte Boguslawas Gier.
»Es ist angerichtet, meine treuen Seelen!«, rief Zvatochna mit knarrender Stimme und verschloss ihre Adern mit Nadel und Faden, während die ersten Lichter herbei schossen und knapp über die Lache hinweg huschten, wie es trinkende Schwalben taten.
Der Geruch wurde anziehender, bis Boguslawa sich nicht mehr zurückhalten konnte und mit den anderen hinabstieß, um davon zu kosten.
Als sie das Blut der Bettlerin in sich aufnahm, schien sie ungeahnte Energien in sich aufzurütteln. Sie spürte, dass sie aufleuchtete wie all die anderen und sich überschwängliche Freude in
ihr ausbreitete, gefolgt von einem Schwindel, wie ihn selbst der stärkste Alkohol niemals hätte auslösen können. Sie war diesem
Gefühl unverzüglich verfallen, nichts ließ sich damit vergleichen. Dann war es vorbei - doch Boguslawa verlangte nach mehr.
Sie drehte sich um und wollte einen zweiten Anflug wagen, da wurde sie von anderen hungrigen Seelen weggedrängt. Sie wurde angeschrien und angezischt, und sie erwiderte die Drohgebärden. Bis sie endlich eine Lücke in dem Ansturm gefunden hatte, gab es nichts mehr. Sie war maßlos enttäuscht.
»Wir ziehen weiter, meine Seelen«, vernahm sie Zvatochnas Stimme. »Ich will noch mehr von euch mein Eigen nennen.« Die BettJerin wandte sich dem Tor zu und schwankte vorwärts, sie wirkte angeschlagen.
Boguslawas Wut auf die Frau und all die Zurückhaltung, der Wunsch nach Freiheit waren verschwunden. Sie folgte ihrer Meisterin, von deren Blut sie unbedingt wieder trinken musste.
Weitere Kostenlose Bücher