Faunblut
sollen? Vorsichtig befühlte sie die verwundeten Seiten. Etwas Spitzes hatte das Papier beschädigt. Zähne? Ja, es sah so aus, als hätte ein Tier an ihrem Schatz herumgezerrt. Und als Jade den Fleck auf dem Boden genauer betrachtete, bemerkte sie einige Spuren, die zum Fenster führten. Sie waren verwaschen und winzig. Konnten es Marderspuren sein? Ratten? Raben? Was auch immer es für ein Tier war, es musste durch das Fenster hereingekommen sein.
Jade stürzte zum Fenster und lehnte sich weit hinaus. Direkt über ihr schlugen zwei Fenster im Takt des Windes auf und zu. Jade rief sich den Grundriss des oberen Stockwerks ins Gedächtnis. Dann schob sie das Foto ihrer Mutter in die Innentasche ihrer Jacke und kletterte kurz entschlossen hinaus.
Noch nie war sie an der äußeren Fassade entlang in den obersten Stock gelangt, aber sie stellte fest, dass es nicht schwierig war. Die geschwungenen Körper der Steinaale gaben ihren Füßen guten Halt. Sie zögerte nur kurz, bevor sie sich streckte und die Finger vorsichtig in eine Scharte am Fenstersims einhakte. Unter ihren Fingerkuppen raschelten die trockenen, papierdünnen Wände eines verlassenen Wespennestes. Vorsichtig zog sie sich hoch, wobei sie aufpassen musste, dass der schwingende Fensterflügel sie nicht mit voller Wucht traf. Ein Windstoß wehte ihr das Haar nach hinten, leise pfiff der Wind durch das Stockwerk. Gut. Er kam von der richtigen Seite. So würde der Hund ihre Witterung nicht sofort aufnehmen. Langsam zog sie sich weiter hoch, immer in der Erwartung, sich schnell wieder zurückfallen zu lassen, sollte der Hund am Fenster auftauchen. Sie bekam den hölzernen Fensterladen zu fassen und erhaschte gleich darauf einen Blick in den Prunkraum, den sie vor wenigen Tagen noch eingerichtet hatte. Sie hätte ihn nicht wiedererkannt.
Jeder Gegenstand, jeder Tisch und jeder Stuhl war umgeworfen und beschädigt! Polsterwolle quoll aus einem aufgerissenen Sessel. Die Vorhänge waren zerrissen oder lagen auf dem Boden, Käfigkisten stapelten sich rings um das gewaltige Himmelbett, das in die Mitte des Raumes geschoben worden war.
Jade schwang lautlos die Beine über das Fensterbrett und ließ sich in den Raum gleiten. Vorsichtig ging sie ein paar Schritte und sah sich fassungslos um. Wind bauschte den zerfetzten Bettvorhang. Die Seitentüren und die Tür zum Flur standen offen, verstreute Sachen hinderten sie am Zuschlagen.
Und überall die Käfigkisten. Jade wandte den Blick ab und glitt geräuschlos in Richtung Tür. Erst der Hund , dachte sie. Das klang vernünftig, und einen Augenblick glaubte sie sogar selbst daran, dass es nicht die Erinnerung an das bösartige Auge war, die sie davon abhielt, sofort zu den Kisten zu gehen. Leise hob sie einen bronzenen Kerzenhalter vom Boden auf und wog ihn prüfend in der Hand. Als Waffe würde er genügen. Dann huschte sie zu einem der Seitenräume.
Drei Türen hatte er: eine zum Flur, eine zum Nebenzimmer – und eine versteckte Dienstbotentür, die sich kaum von dem hölzernen Furnier einer Wand abhob. Jade schätzte die Entfernungen genau ab, prüfte mögliche Hindernisse und die Schlösser. Dann versperrte sie die Seitentür, öffnete die anderen beiden und lugte in den Flur. Der Hund war nicht zu sehen, vermutlich saß er immer noch an seinem Platz bei der Treppe.
Jade musste sich mehrmals über die trockenen Lippen lecken, bevor sie einen leisen Pfiff zustande brachte. Zur Sicherheit klopfte sie auch noch mit dem Leuchter gegen den Türstock. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass dieser Hund nicht schneller und schlauer war als die listigen Straßenköter, die sie oft genug abgehängt hatte.
Der Hund bellte nicht, er schoss lautlos um die Ecke und war so schnell, dass Jade vor Schreck das Herz einen Schlag lang aussetzte. Beinahe hätte sie im Reflex die Tür zugeschlagen, doch dann drehte sie sich um und rannte quer durch das Zimmer zur Dienstbotentür. Genau in dem Moment, in dem der Hund ins Zimmer stürmte und auf dem glatten Boden schlitternd abbremste, schlüpfte sie durch die Dienstbotentür und schlug sie hinter sich zu. Krallen schabten über das Holz. Jade floh den schmalen Gang entlang, riss die Tür zum Flur auf und stürzte zurück zum Zimmer. Keine Sekunde zu früh. In dem Bruchteil eines Wimpernschlags, bevor sie die Zimmertür zuzog, sah sie durch den Türspalt, dass der Hund das Manöver durchschaut hatte und auf sie zustürzte. Mit aller Kraft zog sie die Tür zu. Fast im selben Moment
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