Fear
Kostbares, aber zugleich im Überfluss vorhanden – es gab immer noch mehr davon, wenn man sie brauchte.
Jetzt aber war die Zeit für Jenny wie das Tropfen bei der chinesischen Wasserfolter: ein langsamer, endloser Taktschlag, der sie zwang mitzuzählen, während zugleich die Unmöglichkeit dieses Unterfangens sie dem Zusammenbruch noch näher brachte.
Sie war zu dem Schluss gelangt, dass er sie täglich besuchte. Meistens am Morgen. Vielleicht nicht immer, aber doch so oft, dass es ihr etwas gab, woran sie sich festhalten konnte; eine Routine, eine Struktur. Wenn sie lange genug wach bleiben könnte, die Minuten und Stunden markieren und zwischen den Besuchen immer nur einmal schlafen, dann könnte sie den Überblick darüber behalten, wie viele Tage vergangen waren.
Und dann hatte sie einen Geistesblitz: Sie musste einen Kalender in die Wand oder in den Boden ritzen. Das wäre eine viel bessere Methode, den Überblick zu behalten und zugleich dafür zu sorgen, dass sie nicht völlig den Verstand verlor.
Sie hielt diesen Plan an ihr Herz gedrückt, als wäre es eine Karte von Luke zum Valentinstag. Diese eine kleine Sache würde sie am Leben erhalten, so wie Lukes Karten und Anrufe sie am Leben erhalten hatten. Ein Krümelchen Trost. Ein Sandkorn.
Bei seinem nächsten Besuch lag sie ergeben in der Dunkelheit mit geschlossenen Augen, sodass sie auch nicht versehentlich einen Blick auf sein Gesicht erhaschen konnte. Sie spürte, dass er in wütender, ungehaltener Stimmung war, aber sie stellte die Frage trotzdem. Sie musste das Risiko eingehen. Um einen Ausgangspunkt zu haben.
»Wie viel Uhr ist es?«
»Fängst du schon wieder mit dem Quatsch an?«
»Bitte. Es ist Morgen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und das letzte Mal, als du gekommen bist, das war gestern Morgen?«
Er antwortete nicht, schnappte nur den Eimer und verschüttete dabei Urin auf den Boden. Der scharfe, ekelerregende Geruch stieg ihr in die Nase. Ihr Peiniger machte die Tür zu, und sie stellte sich vor, wie er davonstapfte, obwohl sie es nicht hören konnte. Die Zelle war schalldicht, vermutete sie. Die Schreie, die sie gehört hatte, musste sie sich eingebildet haben – oder sie mussten entsetzlich laut gewesen sein, um in die stumme Welt ihres Gefängnisses durchzudringen.
Und dann war er wieder da. Er hatte den Eimer mit frischem Wasser aufgefüllt. Der Geruch des Bleichmittels stach ihr in die Nase, beinahe so widerwärtig wie der Gestank der Exkremente.
»Essen steht an der Tür. Ich habe auch eine Flasche Wasser mitgebracht und noch eine Rolle Klopapier. Und Batterien für die Taschenlampe.«
»Danke. Vielen, vielen Dank.« Eine Pause. »Welchen Tag haben wir heute?«
»Das musst du nicht wissen.«
Sie verstummte resigniert. Den Tag zu wissen, das ging einen Schritt zu weit. Aber er rührte sich nicht. Sie spürte seine Nähe, wie er da in völliger Dunkelheit vor ihr stand. Und in ihre Richtung starrte, obwohl er sicher nichts erkennen konnte.
»Hast du die Taschenlampe?«
»Ja.«
»Schalt sie ein. Aber sieh zu, dass sie auf dich gerichtet ist, nicht auf mich.«
Sie befolgte seine Anweisung. Die Taschenlampe fühlte sich in ihrer Hand mit einem Mal fremd und klobig an, trotz der vielen Stunden, die Jenny sie wie ein geliebtes Schoßhündchen an sich gedrückt hatte. Diesmal war das Licht wie ein Schock; es ängstigte sie auf ungekannte Weise. Aber sie gehorchte ihm, richtete den Strahl auf sich und leuchtete ihren Körper von oben bis unten an.
»Du wäschst dich nicht richtig«, stieß er voller Abscheu hervor.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hörte ihn schnaufen. Dann murmelte er etwas und ging hinaus. Als er zurückkam, stellte er etwas auf den Boden.
»Seife«, sagte er. »Das nächste Mal will ich, dass du sauber bist. Was glaubst du denn, wer ich bin, dass ich mit einer vögeln soll, die nach Scheiße stinkt?«
»Du tust zu viel Bleichmittel in den Eimer.« Es war kein Mut; die Worte sprudelten aus dem Nichts hervor, ehe sie ihnen Einhalt gebieten konnte. »Damit verätze ich mich, besonders … da unten.«
»Na, dann nimm eben das Trinkwasser. Hauptsache, du wäschst dich ordentlich.«
Sie konnte hören, wie er die Tür öffnete, und plötzlich erfasste sie wilder Leichtsinn.
»Leon?«
Er erstarrte; selbst der Atem schien ihm zu stocken. Sie spürte das Fehlen der Vibrationen in der Luft. Körperlich erstarrt, aber auch emotional. Er hatte tatsächlich vergessen, dass er ihr seinen Namen genannt
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