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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Tag, an dem sie nach Hause kommen und mir auf unserem Baum Geschichten von ihrem Leben auf dem Land erzählen würde. Ich wollte sie daran erinnern, dass sie ihr Versprechen gebrochen hatte, mir so oft wie möglich zu schreiben. Aber bevor sie Gewissensbisse bekam, würde ich ihr verzeihen und versichern, dass sich an meinen Gefühlen ihr gegenüber nichts geändert hatte.
     
    Maos Prinzip vom »Lernen außerhalb des Klassenzimmers« bestimmte unseren Lehrplan. Der Große Steuermann hatte verfügt, dass alle chinesischen Schüler nicht nur in den normalen Schulfächern unterrichtet werden sollten, sondern auch von den Arbeitern, Bauern und Soldaten zu lernen hätten. Um dieser Verpflichtung nachzukommen, war es unerlässlich, dass wir mehrmals vier Wochen am Stück in einer örtlichen Fabrik arbeiteten.
    Mein erster Fabrikeinsatz führte mich in eine große Speiseeisfabrik am Stadtrand. Eis am Stiel wurde von alten Frauen und Kindern auf der Straße verkauft. Sie führten Holzkästchen mit sich, auf die sie mit einem kleinen Holzblock schlugen, und dabei riefen sie: »Milch-, Bohnen- und Bananengeschmack, drei, vier und fünf Fen.« Dieses Eis war eine Köstlichkeit und ein kleiner Luxus. So war ich hellauf begeistert, als ich hörte, dass ich in der Speiseeisfabrik arbeiten sollte. Ich stellte mir vor, dass ich dort dann so viel Eis essen durfte, wie ich wollte.
    In der Fabrik führte eine Frau mittleren Alters mit einem sackartigen blauen Overall und einer Art Militärkappe die Aufsicht. Ihrer Produktionseinrichtung waren zwanzig junge Leute zugeteilt. Die Burschen schickte sie zur Arbeit bei Vorarbeiter Sun und die achtköpfige Mädchengruppe zu Vorarbeiterin Wang. Diese führte uns in einen großen Raum mit drei langen Tischen in der Mitte. Dann schleppte sie einen großen Bambuskorb mit roten Bohnen herbei, die sie gleichmäßig über die gesamte Länge der Tische verteilte. »Eure Aufgabe ist es, den Rattenkot aus den Bohnen zu klauben, damit nichts davon ins Eis kommt«, erklärte sie. »Ständig krabbeln Ratten in die Körbe und fressen die Bohnen. Aber ihr müsst gut aufpassen, denn der Rattenkot ist in Größe, Form und Farbe nur schwer von den Bohnen zu unterscheiden.« Sie nahm eine rote Bohne in die eine Hand und in die andere etwas, was ebenfalls wie eine rote Bohne aussah. »Das ist eine Bohne«, sagte sie und streckte uns die rechte Hand entgegen. »Und das ist Rattenkot«, erklärte sie und hielt die Linke hoch. Sie warf die Bohne zurück auf den Tisch und den Rattenkot in eine alte Blechdose, die neben ihr auf dem Boden stand. »Die Bohnen sind ein bisschen röter als der Rattenkot«, sagte sie. »Also passt gut auf. Und falls ihr euch nicht sicher seid: Sie schmecken unterschiedlich.« Als sie unsere entsetzten Gesichter sah, verzog sich ihr zahnloser Mund zu einem breiten Grinsen. »Benutzt eure Finger, das sollte genügen.«
    »Vorarbeiterin Wang«, fragte eins der Mädchen. »Bekommen wir Handschuhe für diese Arbeit?«
    »Handschuhe?«, knurrte sie. »Sollt ihr euch nicht vom bourgeoisen Denken befreien? Habe ich etwa Handschuhe an?« Sie zeigte uns ihre bloßen Hände. Als keine von uns etwas erwiderte, drehte sie sich um und schloss die Tür hinter sich.
    Das war’s. Schweigend standen wir da und schauten uns an. Wir konnten es kaum fassen. Hatte der Vorsitzende Mao wirklich gewollt, dass wir von den Arbeitern lernten, wie man mit bloßen Händen Rattenkot aus Bohnen aussortierte? Schließlich brach Xu Yuqing das Schweigen und befahl: »Steht nicht rum. Lasst uns anfangen. Wir müssen tun, was uns Vorarbeiterin Wang aufgetragen hat.« Und sie griff in den Bohnenhaufen, nahm eine Faust voll heraus und untersuchte sie. Nun fingen auch wir übrigen an, ließen die Bohnen durch unsere Hände gleiten und tasteten nach Rattenkot. Manche Mädchen empfanden das als eklig, aber was blieb uns anderes übrig? Und wir mussten es mit bloßen Händen tun.
    »Eins weiß ich jetzt sicher«, sagte ich, nachdem ich ein Dutzend Kotkugeln herausgeklaubt hatte.
    »Was denn?«, fragte Xu Yuqing. »Was hast du heute gelernt, Genossin Wu?«
    »Ich habe heute gelernt, dass ich nie wieder Eis am Stiel essen werde, Genossin Xu.«
    Rings um die Tische erklang Kichern.
    Vier Wochen lang trennten wir Bohnen von Kot. Dann wurden wir kurze Zeit in Mathematik, Chemie und Englisch unterrichtet, allerdings auf Grundschulniveau. Im Englischunterricht mussten wir eine falsche Aussprache des Alphabets auswendig lernen und mit

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