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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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gereckten Fäusten rufen: »Lang Li Wu Qi Men Mao«, wobei wir felsenfest überzeugt waren, in perfektem Englisch »Long live Chairman Mao« (»Lang lebe der Vorsitzende Mao«) zu skandieren. Nach wenigen Wochen Schulunterricht hieß es, dass wir nun wieder von den Arbeitern zu lernen hätten. Diesmal rückten wir in eine Lastwagenfabrik ein, und ich wurde einer Schweißerin zugeteilt. Sie war eine nette Frau mit Vollmondgesicht und einer ungewöhnlich melodischen Stimme. »Willkommen«, begrüßte sie mich mit einem Lächeln. »Ich bin Vorarbeiterin Jiang. Und du bist eine Oberschülerin und ganz zweifellos ein heller Kopf. Warum verschwendest du deine Zeit in dieser armseligen Fabrik? Du solltest für die Schule lernen.«
    »Ich bin hier, um von dir zu lernen, Vorarbeiterin Jiang«, antwortete ich schüchtern. »Du sollst mir beibringen, wie man schweißt.«
    Sie brach in Gelächter aus. »Und wenn du’s kannst, was willst du damit anfangen?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich.
    »Was für eine Verschwendung!«, brummte sie. »Na gut, bleib an meiner Seite, solange du hier bist.«
    Sie führte mich zu ihrem Arbeitsplatz in einer Ecke der Halle. Der Geruch der Chemikalien, mit denen sie arbeitete, war unerträglich. Mir stiegen Tränen in die Augen, und ich bekam grässliche Kopfschmerzen. Doch Vorarbeiterin Jiang schien die Gerüche gar nicht wahrzunehmen. Mit einer Metallmaske vor dem Gesicht schweißte sie eine kleine Stelle an einem Eisenstück. »Setz das auf«, sagte sie und reichte mir die Maske. »Halt sie mit der linken Hand fest.« Sie drückte mir eine Schweißpistole in die Hand und ließ mich zum Üben eine Stelle an einem Stück Schrott schweißen. Es hatte einfach ausgesehen, und ich versuchte, es ihr nachzutun, doch meine Schweißnaht wurde ungleichmäßig und schlampig. »Ach, du bist eben noch ein Kind«, lachte sie. »Du bist zu schwach und wirst dich noch verletzen. Tu am besten gar nichts. Setz dich einfach dort drüben hin.«
    »Aber muss ich denn nicht irgendetwas arbeiten?«
    »Nein. Es gibt hier nichts, was du tun könntest.«
    Die Fabrik war nach den neuen Grundsätzen der »Theorie der Herrschaftslosigkeit« und der »Eisernen Reisschüssel« organisiert. Soweit ich es beurteilen konnte, hieß das, dass es keine Vorgesetzten gab und dass niemand arbeitete.
    Mir fiel auf, dass Vorarbeiterin Jiang unter ihrem offenen Overall einen farbenfrohen Pullover trug. Immer noch verlegen über meine Ungeschicklichkeit, wechselte ich das Thema. »Was für ein schöner Pullover«, sagte ich.
    Bei diesem Kompliment leuchteten ihre Augen auf. »Den habe ich selbst gemacht«, erwiderte sie. »Vielleicht kannst du ja doch etwas von mir lernen. Bring morgen Nadeln und Garn mit, dann zeige ich dir, wie man einen Pullover strickt.«
    Am nächsten Morgen kam ich mit Stricknadeln und Garn in die Fabrik. Vorarbeiterin Jiang setzte sich neben mich auf einen kleinen Arbeitsschemel und zeigte mir geduldig, wie man ausgefallene Muster und Blumenranken strickte.
    Nun saßen wir Tag für Tag nebeneinander und strickten. Sie arbeitete an einem Pullover für ihren Mann. Hin und wieder unterbrach sie ihre Handarbeit und schweißte etwas, aber nur für den privaten Gebrauch, etwa einen Waschbeckenständer für ihre Wohnung. Da es sich um eine staatliche Fabrik und um staatseigenes Material handelte, war dies eigentlich Diebstahl. Aber natürlich verlor ich kein Wort darüber. Mir fiel auf, dass nach dem Ende der Schicht viele Arbeiter etwas mit nach Hause nahmen – ein kleines Aquarium, einen Tisch, einen Stuhl. Stück für Stück plünderten sie die Fabrik aus.
    Eines Nachmittags unterhielt ich mich mit einer Mitschülerin, die in einer anderen Abteilung der Fabrik arbeitete. »Was tust du hier?«, fragte ich.
    Lächelnd hielt sie ein Buch hoch. »Ich lese. Und du?«
    »Ich stricke«, antwortete ich. Wir plauderten noch eine Weile, dann ging ich wieder in meine Abteilung, um weiterzustricken.
    Der Pullover wurde während unseres Arbeitseinsatzes in der Fabrik fertig. Und meine Mitschülerin bewältigte in dieser Zeit eine ganze Menge Lesestoff.

Kapitel 50
    E in Jahr nach unserem Umzug nach Wuhu schloss Yiding die Oberschule ab und wurde als »gebildeter Jugendlicher« aufs Land geschickt. Er gab sich alle Mühe, meine besorgten Eltern zu trösten. »Mir wird schon nichts passieren«, versicherte er ihnen. »Ich habe auf den Feldern von Gao zupacken gelernt.«
    Die Schüler hatten ein begrenztes Mitspracherecht bei

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