Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
sagte ich. »Er hat Papa beim Packen geholfen, als er nach China zurückgekehrt ist.«
Ich lief nach Hause. Mein Vater saß am Tisch und las. »Papa«, flüsterte ich und konnte meine Aufregung kaum zügeln. »Weißt du, wer hierhergekommen ist?«
»Wer denn?«, fragte er.
»Yang Chen-Ning! Und der Polizist hat gesagt, er ist ein Freund von Lee Tsung-Dao.«
Papa erbleichte.
»Papa, sie sagen, er ist jetzt ein wichtiger Mann.«
»Mein lieber alter Freund?«, murmelte Papa ungläubig. »Hier?«
»Ja. Ich habe seine Limousine gesehen.«
In Papas Augen traten Tränen. »Hier? In Wuhu? Jetzt?«
»Ja«, antwortete ich. »Mit Polizisten, die ihn beschützen.«
Ein trauriges Lächeln erschien auf Papas Gesicht. Er stützte den Kopf in die Hände und schwieg.
Kapitel 49
F ast jede Nacht hörte ich, wie Yuanyu von ihrem Vater geschlagen und beschimpft wurde. Er schob ihr alles in die Schuhe, was zu Hause schiefging; selbst wenn ihre Brüder in der Schule nicht die erwarteten Leistungen erbrachten, machte er Yuanyu dafür verantwortlich. Danach fing dann meist ihre Mutter an zu jammern. Yuanyu lag nur wenige Zentimeter von mir entfernt auf der anderen Seite der Wand und weinte. Mir blutete jedes Mal das Herz, wenn ich das hörte. Auf meine Frage, warum ihre Eltern sie so behandelten, antwortete sie schlicht: »Weil sie mich hassen.«
»Warum denn?«
»Wenn ich das nur wüsste. Manchmal glaube ich, sie haben mich adoptiert und hassen mich deshalb. Womöglich haben sie mich ja von jemandem bekommen, vielleicht während der Hungersnot. Und jetzt bereuen sie, dass sie mich aufgenommen haben. Vielleicht habe ich ja irgendwo eine richtige Mutter, die mich sogar vermisst. Wenn ich nur wüsste, wo.«
»Wie kommst du darauf, Yuanyu?«
»Weil jeder in meiner Familie große Augen und niemand Sommersprossen hat. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Nur ich habe schmale Augen und Sommersprossen. Ich sehe ganz anders aus als alle anderen Mitglieder der Familie. Wie lässt sich das denn sonst erklären, Yimao?«
»Keine Ahnung.«
»Deshalb hassen sie mich. Einen anderen Grund kann es nicht geben. Ich koche, kaufe ein, mache sauber, wasche die Wäsche – und trotzdem hassen sie mich.«
Wie ich bekam auch Yuanyu in der Schule nur Bestnoten. Aber das beeindruckte ihre Eltern nicht. Sie interessierten sich nur für die Zensuren von Yuanyus Brüdern.
Nacht für Nacht hörte ich das Geschrei, das Geschimpfe, die Schläge und Yuanyus flehentliche Entschuldigungen. Wenn wir uns morgens trafen, waren ihre Augen manchmal ganz rot und ihre Arme mit blauen Flecken übersät. Sie bat mich dann, ihr meine langärmelige Bluse zu leihen, damit man die Prellungen nicht sah. Yuanyu tat mir so leid. Doch ich konnte nichts für sie tun. Als das Schuljahr zu Ende ging, vertraute sie mir bedrückt an, dass sie es kaum erwarten könne, ihren Abschluss zu machen und von zu Hause fortzugehen. »Aber dich werde ich schrecklich vermissen, Yimao«, fügte sie hinzu.
»Ich dich auch, Yuanyu.«
»Aber sonst wird mir niemand fehlen.«
»Versprich mir eins«, bat ich, »versprich mir, dass du mir nach deiner Abreise schreibst, so oft es geht.«
»Das werde ich tun«, sagte sie. »Und du, schreibst du mir auch?«
»Jede Woche, Yuanyu. Versprochen.«
In diesem Sommer wurde Yuanyu mit einem Produktions- und Bautrupp zum Arbeitseinsatz aufs Land geschickt. Der Trupp war aus »gebildeten Jugendlichen« zusammengestellt worden, die alle einen Oberschulabschluss hatten. Sie schrieb mir jeden Monat und berichtete über ihr Leben dort. »Es ist harte Arbeit, Yimao, und manchmal bin ich sehr erschöpft. Aber wenigstens schlägt mich niemand. Ich bin froh, hier zu sein. Du fehlst mir allerdings sehr.« Ich antwortete ihr sofort, schilderte den Schulalltag und erzählte von meinen Freundinnen und unseren Aktivitäten. Und in jedem Brief beteuerte ich, dass sie mir ebenfalls fehle.
Nach ein paar Monaten änderte sich der Tonfall ihrer Briefe. Die Jungs in ihrem Arbeitstrupp fänden Gefallen an ihr, schrieb sie. »Sie kommen aus ganz China. Und es gibt etliche, die mich mögen und nach Feierabend mit mir plaudern. Manche helfen mir sogar bei der Arbeit, damit ich es nicht so schwer habe. Mir gefällt es hier immer besser, Yimao.«
Ihre Briefe wurden seltener, und irgendwann im Frühjahr traf der letzte ein. Ich schrieb ihr noch ein halbes Dutzend Mal, bekam aber nie eine Antwort. Da hörte auch ich auf, ihr zu schreiben. Doch ich harrte und hoffte auf den
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