Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
wir das laute Scheppern hörten. Und gleich darauf rochen wir das Resultat seines Zorns. Wir hatten Angst, vor die Tür zu schauen, denn dort hörten wir ihn brüllen: »Verdammte Rechtsabweichler! Wir wissen, was ihr im Schilde führt! Das ist erst der Anfang! Der Krieg hat gerade erst begonnen!«
Entsetzt und verängstigt sahen wir uns an, während er draußen tobte. Die Situation erinnerte mich an das Wüten der Roten Garden in Hefei. Ich befürchtete, alles würde sich wiederholen und wir würden vernichtet werden. Aber wir waren nicht die einzige Zielscheibe seiner Wutausbrüche. In seinem Hass schlug er wahllos um sich. Zu allen Tages- und Nachtzeiten streifte er herum und belästigte und beschimpfte Leute. Doch eines Abends ging er fort und kehrte nicht zurück. Seine Eltern suchten ihn fast die ganze Nacht und gaben am Morgen eine Vermisstenanzeige auf. Auch am nächsten und übernächsten Tag fand sich keine Spur von ihm. Er kam nie mehr zurück. Wir waren froh, dass er weg war. Allerdings wagten wir nicht, diese Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Etwa eine Woche nach seinem Verschwinden blieb Yuanyu morgens auf dem Weg zur Schule stehen, drehte sich um und musterte die Leute, die hinter uns gingen. »Ich kann es einfach nicht glauben, dass er wirklich fort ist«, sagte sie.
Wir setzten unseren Weg fort, und sie meinte, sie sei so glücklich, ihn endlich los zu sein. »Ich auch«, pflichtete ich ihr bei. »Was wohl mit ihm passiert sein mag?«
»Wozu sich darüber den Kopf zerbrechen?«, erwiderte Yuanyu lachend. »Wenn mal etwas Gutes passiert, dann frag nicht, warum.«
Yuanyu und ich waren nahezu unzertrennlich. Wir gingen zusammen zur Schule und zurück, außer wenn ich KJV -Sitzungen hatte. Wir trugen die Schmutzwäsche unserer Familien zum Wasserhahn, setzten uns auf niedrige Hocker und plauderten beim Waschen. Vor der Kirche stand ein großer Baum, an dem wir die Kleider zum Trocknen aufhängten. Wenn wir damit fertig waren, kletterten wir in die Baumkrone hinauf, ließen die Füße baumeln und betrachteten die Welt unter uns. Als wir eines Nachmittags auf dem Baum saßen, erschienen zahlreiche Polizisten und räumten die Straße. »Geht rein, schließt die Türen und kommt erst wieder raus, wenn wir es euch sagen«, riefen sie den Leuten zu.
»Was ist denn los? Ist was passiert?«, fragte jemand.
»Ein ausländischer Würdenträger ist zu Besuch in Wuhu«, antwortete ein Polizist. »Er kommt aus den Vereinigten Staaten. Wir wollen nicht, dass er belästigt wird. Also geh schon rein. Und stell keine Fragen mehr.«
Yuanyu und ich verhielten uns mucksmäuschenstill und wurden von den Polizisten nicht bemerkt. Während alle anderen in ihren Wohnungen verschwanden, blieben wir unbehelligt in unserem Ausguck sitzen.
In unmittelbarer Nähe unseres Baumes bezogen zwei Polizisten Stellung. Es wurde so still auf der Straße, dass wir die Worte der beiden Männer hören konnten.
»Was ist das eigentlich für ein Würdenträger?«, fragte der eine seinen Kollegen.
»Ein berühmter Physiker. Er ist Chinese, lebt aber in Amerika«, antwortete der andere.
»Warum ist er berühmt?«, fragte der erste.
»Er hat den Nobelpreis bekommen. Hast du es nicht in der
Volkszeitung
gelesen?«
»Wie heißt er?«
»Yang Chen-Ning«, antwortete der zweite. »Aber das Unglaubliche daran ist: Er hat den Preis zusammen mit einem anderen Chinesen erhalten. Zwei Chinesen! Lee Tsung-Dao heißt der andere. Er lebt auch in Amerika.« Als ich den Namen Lee TsungDao hörte, blieb mir der Mund offen stehen. Yuanyu bemerkte meine Verblüffung, blieb aber stumm.
Eine Reihe Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht tauchte auf. Dahinter fuhr eine lange schwarze Limousine, das größte Auto, das ich je gesehen hatte. Die dunklen Vorhänge in den Fenstern waren zugezogen. Ihr folgten weitere Streifenwagen, die an uns vorbeirauschten, während die beiden Polizisten ins Innere der Limousine zu spähen versuchten. Wenige Augenblicke nachdem der Konvoi verschwunden war, gingen auch die Polizisten. Die Menschen kamen wieder aus ihren Wohnungen heraus, und auf der Straße herrschte wieder das gewohnte lebhafte Treiben.
Yuanyu und ich kletterten vom Baum. »Du wirst es nicht glauben, aber wir haben bei uns daheim einen Koffer, auf dem der Name Lee Tsung-Dao steht«, erzählte ich ihr atemlos. »Und er hat ihn selbst daraufgeschrieben.«
»Wirklich!«, rief sie aus.
»Vor langer Zeit war er ein Studienkollege meines Vaters in Amerika«,
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