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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Ungewöhnliches. »Wo ist er?«, fragte ich.
    Einen Augenblick später drehte sich Yuanyu abrupt um. Dann erklärte sie: »Manchmal versteckt er sich, wenn er meint, dass wir ihn entdeckt haben. Warte ein bisschen und schau dann noch mal.«
    Das tat ich, und jetzt sah ich ihn: eine seltsame Gestalt, die hin und her flitzte, damit wir ihn nicht bemerkten. Kurz kreuzten sich unsere Blicke, ehe er sich hinter einer Gruppe von Fußgängern duckte. Er war jung. Sein Haar war zerzaust, sein Hemd wurde nur von einem einzigen Knopf zusammengehalten. Auf seinem Gesicht lag ein blödes, schuldbewusstes Grinsen.
    »Ich glaube, ich hab ihn gesehen«, sagte ich. »Wer ist das? Was macht er hier?«
    »Er ist ein Spinner«, erwiderte Yuanyu. »Seine Familie wohnt in der ersten Unterkunft ganz vorn in der Kirche. Sein Vater ist der herumschnüffelnde Kader.«
    »Ist er gefährlich?«, fragte ich.
    »Ich glaube nicht. Er ist bloß verrückt. Er verfolgt mich jeden Tag. Manchmal geht er dicht hinter mir und läuft weg, sobald ich mich umdrehe. Dann wieder hält er Abstand und verbirgt sich hinter Bäumen und Gebäuden.«
    »Warum?«
    »Keine Ahnung. Ich habe es meiner Mutter gesagt. Sie meinte, ich solle ihn einfach nicht beachten. Wenn ich mich über ihn beschwere, kriege ich wahrscheinlich Ärger, weil sein Vater doch ein Kader ist.«
    Als wir am Markt ankamen, war er verschwunden.
    »Er macht mir irgendwie Angst«, bekannte ich, als wir in der Schlange standen. »Wie kommt es, dass er so geworden ist?«
    »Angeblich war er früher an der Universität«, erzählte Yuanyu. »Seine Eltern haben mit viel Geld das Wohlwollen der Behörden erkauft, damit er zum Studium zugelassen wurde. Und weil er über eins achtzig und nicht sehr helle ist, haben sie ihn in die Sportfakultät gesteckt, wo er Basketball spielen durfte.
    Dort lernte er ein großes, sportliches Mädchen kennen und verliebte sich in sie. Sie studierte Kunst und Musik. Sie galt als eines der schönsten Mädchen an der Universität. Angeblich waren viele Jungen in sie verknallt. Sie hatte eine Menge Verehrer.
    Obwohl sie nicht einmal mit ihm reden wollte, steigerte er sich immer mehr in seine Verliebtheit hinein. Er schrieb ihr Briefe und versuchte, Gespräche mit ihr anzuknüpfen, aber sie ignorierte ihn.
    Am Ende war er so verzweifelt, dass bei ihm irgendeine Sicherung durchbrannte und er verrückt wurde. Er brach sein Studium ab, streifte nur noch in der Gegend herum und führte dauernd Selbstgespräche. Er wurde – nun ja – wunderlich.«
    Danach ertappte ich ihn mehrmals dabei, wie er mich verfolgte. Manchmal ging er nur wenige Schritte hinter mir. Wenn ich mich zu ihm umdrehte, erwiderte er trotzig meinen Blick oder blieb stehen und schaute verlegen zu Boden. Manchmal schien er mich bedrohen zu wollen, dann wieder schien er sich von mir bedroht zu fühlen.
    Als ich meiner Mutter von ihm erzählte, ermahnte sie mich lediglich, ich solle mich von ihm fernhalten, weil seine Eltern politisch einflussreich seien. Zuweilen bekam er heftige Wutausbrüche, die von langen Phasen hartnäckigen Schweigens abgelöst wurden. Er hatte gute und schlechte Tage. Manchmal saß er mit versteinerter Miene vor der Kirche, dann wieder heulte und schrie er und hämmerte gegen die Wände.
    Eines Morgens ging ich nach dem Einkaufen zur öffentlichen Latrine. Es gab dort zwei Räume, einen für Männer und einen für Frauen. Auf der Frauenseite befanden sich zwei Reihen Löcher im Boden. Trennwände waren nicht vorhanden. Ich hatte gerade meine Hose heruntergelassen und hockte über einem der Löcher, als plötzlich der Verrückte hereinkam und sich über dem Loch mir gegenüber hinhockte. Lüstern und boshaft schielte er mit seinem breiten Idiotengrinsen herüber. Ich zog die Hose hoch und rannte heim. Unterwegs hörte ich hinter mir seine Schritte und seinen Atem. Ich stürmte in unsere Wohnung und schlug die Tür hinter mir zu. Zitternd und außer Atem stand ich da und befürchtete, er würde die Tür einschlagen.
    »Was ist los?«, fragte Mama.
    Ich nahm ein Stück Papier und schrieb auf, was geschehen war. Denn ich wollte nicht, dass der Vater des Jungen es mitbekam.
    Mama las meine Worte, schürzte die Lippen und nickte. Dann öffnete sie die Tür einen Spalt, um festzustellen, ob er noch da war. Aber er war verschwunden.
    Danach wurde der Bursche noch verrückter. Eines Morgens nahm er den vollen Nachttopf seiner Familie und schleuderte ihn gegen unsere Tür. Wir fuhren zusammen, als

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