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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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aller gebildeten Jugendlichen war so verzweifelt und so hoffnungslos wie seine. Uns erfüllten Wünsche und Träume und vor allem die Sehnsucht nach einem anderen Schicksal. Wie versteinert stand ich vor dem gefangenen Tiger. Die Dorfbewohner verspotteten ihn, priesen den Jäger und lachten, als das Tier an den Käfigstangen kratzte. Manche bewarfen ihn mit Kieselsteinen, um ihn zu ärgern. Ich aber sah die Verzweiflung und die Angst und die Enttäuschung in den Augen des Tiers. Wie gerne hätte ich ihm die Freiheit geschenkt.

Kapitel 52
    D er Winter kam. Schnee bedeckte die Berggipfel, und die Rot- und Grüntöne der Landschaft verwandelten sich in strahlendes Weiß. Die Schüler hatten Neujahrsferien, weshalb Yiping nach Hause reisen durfte. Auch ich wäre gerne heimgefahren. Da traf ein Telegramm von meinem Vater ein, das mir einen Grund bot, Sonderurlaub zu beantragen. In dem Schreiben stand: »Vater im Krankenhaus. Mutter hat Arm gebrochen. Komm schnell heim.« Beunruhigt über diese Neuigkeiten suchte ich das Haus des Gemeinschaftsleiters auf. Er saß gerade beim Abendessen. In den Bergen war es üblich, dass der Haushaltsvorstand allein speiste. Seine Kinder und seine Frau durften nicht mit ihm bei Tisch sitzen und waren offenbar nicht zu Hause. Nachdem er mich hereingebeten hatte, zeigte ich ihm das Telegramm und bat um zwei Wochen Urlaub.
    »Es ist Essenszeit«, sagte Huang. »Setz dich, dann reden wir darüber.«
    »Ich muss zurück zu meiner Hütte, weil Cuihua mit dem Essen auf mich wartet«, erwiderte ich.
    »Ich sage dir was«, entgegnete er. »Wenn du drei Becher Wein mit mir trinkst, genehmige ich deinen Urlaub.«
    Da ich seine Zustimmung benötigte, ging ich auf sein Angebot ein und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch. Er füllte meinen Weinkelch bis zum Rand, goss sich ebenfalls ein und stieß mit mir auf ein langes Leben an. Dann leerte er seinen Becher in einem Zug, während ich an meinem nur zweimal nippte.
    »Trink aus, wenn du Urlaub möchtest«, neckte er mich. Widerwillig gehorchte ich und kippte, seinem Beispiel folgend, den Wein herunter. Der Alkohol brannte in meiner Kehle. Huang gluckste schelmisch und schenkte uns beiden nach. Wieder trank er seinen Becher aus und verlangte, dass ich dasselbe tat. Was blieb mir anderes übrig? Mein Gesicht rötete sich, und ich fühlte mich benebelt.
    »Gemeinschaftsleiter Huang«, sagte ich, »ich glaube, mehr schaffe ich nicht. Kannst du mir nicht jetzt schon die Genehmigung geben?«
    »Wir haben eine Abmachung«, entgegnete er und hielt drei Finger hoch. »Drei Becher Wein. Nicht zwei – drei!«
    Und so goss er mir erneut ein. Wir stießen an und leerten die Kelche in einem Zug. In meinem Bauch rumorte es, und mir wurde übel. Ich war mir nicht sicher, ob ich noch stehen konnte.
    »Bekomme ich deine Erlaubnis?«, fragte ich.
    Im Licht der flackernden Kerosinlampe grinste er mich lüstern über den Tisch hinweg an. »Darüber muss ich erst nachdenken«, meinte er.
    »Gemeinschaftsleiter Huang«, protestierte ich mit schwerer Zunge, »du hast mir vorhin versprochen, wenn ich drei Becher Wein trinke …«
    »Ich werde darüber nachdenken!«, schnitt er mir das Wort ab. Sein Gesicht glühte im Schein der Lampe, in seinen Augen lag ein Glitzern.
    »Ich gehe jetzt«, erklärte ich und stand auf, wobei ich mich am Tisch abstützen musste.
    »Du musst noch nicht gehen«, sagte er und griff nach meinem Handgelenk.
    Doch ich zog die Hand schnell weg, öffnete die Tür und trat in die kalte Nachtluft hinaus.
    Im Nu war er hinter mir. Ich spürte seinen keuchenden Atem im Nacken. »Geh nicht«, sabberte er. Sein Arm schlang sich um meine Taille.
    Ich entwand mich seinem Griff und wich zur Seite.
    »Ich hab dir doch gesagt, du sollst warten«, grunzte er hinter mir. »Ich bin noch nicht fertig mit dir.«
    Stolpernd und keuchend rannte ich mit hochrotem Kopf über seinen Hof und den Berg hinauf zu meiner Hütte. Als ich zur Tür hereinplatzte, saß Cuihua schon am Tisch und aß. Erstaunt sah sie mich an. »Was hast du denn?«
    »Ich habe versucht, von Huang die Erlaubnis für einen Heimaturlaub zu bekommen«, rief ich.
    Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Und Gemeinschaftsleiter Huang hat gesagt: ›Wenn du drei Becher Wein mit mir trinkst …‹ Stimmt’s?«
    »Ja.«
    »Das ist die Bedingung bei allen Mädchen«, erklärte sie. »Drei Becher Wein, und dann begrapscht er dich ein paar Minuten lang.«
    »Ich bin aber weggelaufen«, sagte ich und

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