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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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gehalten.«
    »Wieso denn das?«, fragte ich.
    »Du bist Parteimitglied. Du darfst nicht an Geister glauben«, stellte Yiping fest.
    »Ich glaube an die Partei. Aber ich glaube auch an Geister. Das schließt sich nicht aus.«
    Ich musste an mich halten, um nicht laut herauszulachen.
    »Ihr dummen Stadtkinder«, sagte er kopfschüttelnd und zeigte auf den Stein, auf dem wir saßen. »Dieser Fels heißt der Geisterfrisiertisch. Der Fluss ist hier wie ein großer Spiegel. Deshalb kommen die Geister bei Vollmond her und setzen sich auf den Stein, dann betrachten sie sich im Wasser und kämmen sich das Haar. Deshalb bin ich heute Nacht mit dem Gewehr unterwegs. Die meisten Dorfbewohner würden sich in einer Vollmondnacht gar nicht erst in die Nähe des Felsens trauen.«
    »Ist jemals jemand durch diese Geister zu Schaden gekommen?«, fragte ich.
    »Es sind Menschen im Fluss verschwunden. Männer und Frauen. Und Kinder.«
    Beunruhigt schauten wir auf die leicht gekräuselte Wasseroberfläche, standen auf und gingen zu Huang hinüber.
    »Ich komme gerade von meiner monatlichen Parteisitzung«, erklärte er uns. »Mein Weg führt mich hier vorbei, und da habe ich euch gehört.«
    »Wir veranstalten ein Festessen«, sagte ich. »Darf ich dich einladen?«
    Huang begleitete uns zurück. Als wir zu unserer Hütte kamen, sah ich die anderen im Kreis auf dem Boden sitzen. Der Mondschein erhellte ihre Gesichter, und ich erkannte das wehmütige Lied über das Los der gebildeten Jugendlichen. Am liebsten hätte ich losgeheult.
    Mit hängendem Kopf sitze ich neben der Kerosinlampe
    Und sehne mich nach meinem Zuhause.
    Der Wind bläst, die Flamme flackert.
    Was für ein elendes Leben.
    Doch liebe Mama, lieber Papa,
    Weint nicht um euer armes Kind.
    Huang lachte laut auf. »Verzogene Stadtgören«, brummte er. »Ihr seid doch lauter kleine greinende Mädchen.« Doch die anderen sangen weiter, und Yiping und ich setzten uns zu ihnen und stimmten ein.
    Aufmerksam lauschend blieb Gemeinschaftsleiter Huang neben uns stehen. Nach dem Lied goss ihm einer der Burschen einen Becher Wein ein, den er in einem Zug leerte. Dann legte er das Gewehr hin, setzte sich zu uns auf den Boden, zündete sich eine Zigarette an und ließ sich nachschenken. Nach vier Bechern Wein und drei Zigaretten hatte Huang Schwierigkeiten beim Aufstehen und suchte im Dunkeln lange vergeblich sein Gewehr.
    »Du willst nach Hause?«, fragte ihn Yiping.
    »Äh, ja«, lallte Huang. »Zeit zum Schlafen.« Und er torkelte davon.
    Als er gegangen war, beschwerten sich einige der Jungen, dass er so viel von unserem Wein getrunken hatte. »Gemeiner Kerl«, sagte einer, und die anderen stimmten zu.
    »Gemeiner Kerl mit Gewehr«, sagte ein anderer. »Blöder alter Scheißkerl«, schimpfte ein weiterer. »Und gefährlich dazu!«
    Wir lachten. Doch ich schaute dabei in die Richtung, in die Huang verschwunden war. Und ich meinte, seine wässrigen Augen im Mondlicht glitzern zu sehen. »Psst, er beobachtet uns«, warnte ich die anderen, worauf alle verstummten. Dann stimmte einer ein wohlbekanntes trauriges Lied über die Heimat an.
    Meine Heimat liegt im Nordosten am Fluss Songhua,
    Wo es Wälder gibt und Kohleminen,
    Wo Sojabohnen und Zuckerhirse auf den Feldern stehen
    Und meine gebrechlichen Eltern und meine Landsleute leben.
    Ich jedoch war eines tristen Tages gezwungen, meine Heimatstadt zu verlassen,
    All die unerschöpflichen Schätze zurückzulassen
    Und musste marschieren, marschieren, marschieren, den ganzen Tag!
    Ach, in welchem Jahr, in welchem Monat
    Werde ich wohl meine liebliche Heimatstadt wiedersehen?
    O Mutter, o Vater, o Mutter, o Vater,
    Wann werden wir einander wieder freudig in die Arme schließen zu Haus?
    Nachdem ich sechs Monate lang in den Bergen gearbeitet hatte, bekam ich Heimaturlaub. Gemeinschaftsleiter Huang genehmigte mir zwei Wochen in Wuhu. Als ich zu Hause eintraf, freuten sich meine Eltern, mich zu sehen, machten sich aber zugleich große Sorgen wegen meiner Gesundheit. Denn durch die Ernährung in den Bergen, die hauptsächlich aus Reis bestand, hatte ich zugenommen und war träge geworden. Also gab Mama sich große Mühe, um frisches Gemüse und Fleisch aufzutreiben, und kochte spezielle Mahlzeiten für mich, worauf ich wieder zu Kräften kam.
    Irgendwann erkundigte ich mich nach Yuanyu. Papa starrte mich einen Augenblick an. »Du hast es nicht gehört?«
    »Nein, ich weiß gar nichts«, antwortete ich und hoffte auf wunderbare Neuigkeiten.
    »Es

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