Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Erlaubnis gegeben.«
»Jetzt behauptet er das Gegenteil.«
»Wohin schickt er mich?«, wollte ich wissen.
»Das musst du ihn selbst fragen«, erwiderte Cuihua.
Gleichermaßen wütend wie ängstlich stürmte ich zur Hütte des Gemeinschaftsleiters.
»Du kannst nicht in meinem Dorf bleiben«, erklärte er.
»Warum nicht?«
»Du bist ein schädliches Element«, entgegnete er. »Das hat man mir schon gesagt, als du gekommen bist. Und du hast es mir bewiesen, indem du unerlaubt nach Hause gefahren bist.«
»Aber …«
»Du wirst zur Brigade Tongxin geschickt. Dort arbeitest du als Grundschullehrerin. Morgen reist du ab.«
Die Brigade Tongxin war einen zweistündigen Fußmarsch entfernt und lag noch höher in den Bergen. Als Cuihua davon erfuhr, meinte sie: »Du solltest froh sein. Schluss mit der Schufterei auf dem Feld. Jetzt kannst du unterrichten wie Yiping.«
Natürlich war ich froh, die Feldarbeit hinter mir zu lassen. Aber das bedeutete auch, dass ich von Yiping getrennt sein würde. Und wahrscheinlich war genau das die Strafe, die sich Huang für mich ausgedacht hatte.
Ich packte meine Sachen. Am Nachmittag wartete eine weitere Überraschung auf mich: Ich bekam einen Brief von der Schwester meines Vaters, Tante Ninghui, aus Shanghai.
Freudig riss ich den Umschlag auf.
Liebe Maomao,
gestern habe ich einen Brief von deinem Vater bekommen.
Er hat mir geschrieben, dass du einen festen Freund hast.
Einen festen Freund, dachte ich und errötete. Es war das erste Mal, dass jemand diesen Ausdruck für eine meiner Beziehungen gebrauchte.
Als ich das erfuhr, war ich hin und her gerissen.
Einerseits freut es mich, dass das Baby, das ich einst in den Armen hielt, inzwischen zu einer jungen Frau herangewachsen ist. Andererseits stimmt es mich traurig, wenn ich daran denke, welche schrecklichen Konsequenzen eine solche Beziehung auf dem Land haben kann.
Wenn Du jemanden in den Bergen heiratest, wirst Du nie wieder in die Stadt zurückkehren können.
Bitte bedenke das! Denk daran, welches Unglück Du damit über Deine Eltern bringen würdest. Und über Dich selbst.
Beherzige meinen Rat. Du stehst unmittelbar am Rande eines Abgrunds. Brich sämtliche Beziehungen zu diesem Freund ab. Lass Dich nicht von Gefühlen leiten. Du bist jung, hübsch, intelligent und tüchtig. Eines Tages werden sich die Zustände in diesem Land ändern. Doch wenn Du als verheiratete Frau in den Bergen lebst, werden sie Dich zwingen, den Rest Deines Leben dort zu verbringen – dann ist alle Hoffnung auf eine Rückkehr dahin. Also bring Dein Pferd vor dem Rand des Abgrunds zum Stehen. Deine armen Eltern haben in den letzten Jahren so viel durchlitten. Sie sind wie Federn im Sturm, die von einem Ort zum anderen geweht werden, ohne über ihr Leben selbst bestimmen zu können. Noch mehr Probleme würden sie nicht ertragen. Sie haben schon zu viel Bitterkeit in sich hineingefressen.
Die Zukunft wird Dir viele Möglichkeiten bieten. Du wirst noch andere Männer kennenlernen, die Deiner Liebe wert sind. Wirf Dein Leben nicht weg!
Als ich zu Ende gelesen hatte, ließ ich den Brief fallen und setzte mich zitternd hin.
»Was ist los? Schlechte Nachrichten?«, erkundigte sich Cuihua.
Ich weinte und brachte lange kein Wort heraus. Schließlich warf ich mich auf mein Bett, wo ich den Rest des Nachmittags verbrachte. Cuihua hob den Brief auf und las ihn. »Yimao, deine Tante hat recht.«
Statt zu antworten, vergoss ich nur noch mehr Tränen.
Am Spätnachmittag hörte ich Yiping draußen nach mir rufen. Ich rührte mich nicht. Cuihua ließ ihn herein. Er sah, dass ich geweint hatte, und kam zu mir. »Was hast du?«, fragte er.
»Yiping …«, begann ich, doch die Worte blieben mir im Halse stecken. Ich wollte ihm alles erzählen, wusste aber nicht, wo anfangen. Ich empfand eine innige Liebe für ihn. Doch solche Gefühle hatte ich ihm gegenüber nie offen zum Ausdruck gebracht. Wenn es darum ging, ihm meine Zuneigung zu bekennen, hatte es mir immer die Sprache verschlagen. Und jetzt, da ich unbedingt darüber reden musste, konnte ich es nicht. So reichte ich ihm nur den Brief und beobachtete, wie beim Lesen seine Neugier in tiefen Ernst umschlug. Er ließ sich auf einen Hocker neben meinem Bett fallen, seufzte schwer und schloss die Augen.
»Wir sind so dumm gewesen«, stieß er mit tonloser Stimme hervor. »Wirklich, Yimao. Wir haben beide gewusst, was geschehen würde. Und trotzdem haben wir es zugelassen. Wir hätten wissen müssen,
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