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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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sind keine guten Nachrichten«, warnte er mich.
    »Was ist es denn?« Ich nahm an, dass sie vielleicht mit ihrer Arbeit auf dem Land unglücklich war. Oder hatte sie gesundheitliche Probleme?
    »Ich habe mit ihrem Vater gesprochen, als er mir die Haare geschnitten hat«, sagte Papa.
    »Kommt sie nach Hause? Dann kann ich sie vielleicht treffen?«, fragte ich aufgeregt.
    »Laut ihrem Vater hatte sie einen Freund auf dem Land, Yimao. Und … wie soll ich es dir sagen … sie ist schwanger geworden. Lange hat sie niemandem etwas davon erzählt, und als es offensichtlich wurde, war es schon zu spät, um etwas dagegen zu tun. Sie hat das Baby bekommen. Es wurde ihr sofort weggenommen.«
    Ich erinnerte mich daran, wie Yuanyu Nacht für Nacht nur durch eine dünne Wand getrennt neben mir geweint hatte. Damals hatte sie vermutet, dass sie als Kleinkind adoptiert worden war. Und jetzt hatte man ihr Baby zur Adoption freigegeben. Wenn nicht gar Schlimmeres mit ihm geschehen war.
    »Natürlich hat man ihre Eltern von ihrem Verhalten … ihrem Problem in Kenntnis gesetzt. Sie schämten sich fürchterlich. Ihr Vater schrieb ihr, dass sie sich nie wieder zu Hause blicken lassen sollte. Und dass sie nicht seine Tochter sei.«
    »Stimmt das, Papa? Dass Yuanyu adoptiert worden ist?«
    »Keine Ahnung, Yimao. Er war sehr wütend, als er es mir erzählte. Aber so hat er es gesagt.«
    »Wo ist Yuanyu jetzt?«
    »Ich war auch letzte Woche bei ihrem Vater zum Haareschneiden. Da hat er mir erzählt, dass sie tot ist.«
    Ich schlug mir die Hände vors Gesicht und schloss die Augen. »Wie das?«
    »Sie ist noch einmal schwanger geworden. Und hat versucht, das Baby loszuwerden. Sie hat Tabletten geschluckt. Viel zu viele.«
    Ich brach in Tränen aus.
    »Ihr Vater hat sie beschimpft und verleugnet. Mit ihrem schamlosen Verhalten habe sie ihrer Familie nichts als Kummer gemacht.«
    Ich dachte daran zurück, wie Yuanyu und ich zusammen gespielt hatten, wie wir gemeinsam zur Schule und nach Hause oder zum Markt gegangen waren, wie gern wir auf unserem Baum gesessen und auf die Welt hinuntergeblickt hatten. Und mein Schluchzen wollte kein Ende nehmen.
    »Warum weinst du denn so, Yimao? Meine Güte, nicht einmal ihre Eltern trauern um sie. Sie hat es sich schließlich selbst zuzuschreiben.«
    Ich wollte etwas darauf erwidern, doch mir fehlten die Worte. Und wahrscheinlich würde mich sowieso niemand verstehen. Also rollte ich mich schluchzend in dem Sessel zusammen. Denn wenn ich mich in mein Bett an der Wand legte, würde ich nur umso intensiver an sie denken und gar nicht mehr aufhören können zu weinen. Meine beste Freundin war tot. Und damit war auch meine einzige Verbindung zu einer kurzen Zeit des Glücks gekappt.
    Die beiden Wochen zu Hause vergingen wie im Flug. Es fiel mir schwer, in die Berge zurückzukehren. Aber ich hatte keine Wahl. Mama packte mir mehrere Bücher ein, damit ich Gesellschaft hätte. Doch diesmal gab es bei meinem Abschied keine Tränen, Mama und ich wechselten lediglich resignierte Blicke. Jetzt schleppte ich auch noch die Bürde von Yuanyus Schicksal mit mir herum. Als der Bus aus der Stadt holperte, schaute ich aus dem Fenster und beobachtete mit Neid, Sehnsucht und tiefer Trauer die Fußgänger und Radfahrer, die ihrer Wege zogen.
    Am Tag nach meiner Rückkehr in die Berge gab es bei einigen Hütten, die nicht weit von unserer entfernt standen, einen Menschenauflauf. »Was ist los?«, fragte ich eine Frau, die wie die anderen den Hang hinuntereilte und an mir vorbeihastete.
    »Ein Jäger hat einen Tiger gefangen!«
    Cuihua und ich rannten ebenfalls hin. Es war tatsächlich ein riesiger Tiger, den der Jäger in einem Käfig aus Holzstangen, alle so dick wie ein Männerbein, zur Schau stellte. Drinnen lief der Tiger auf und ab. Hin und wieder hielt er inne, starrte durch die Stangen auf die neugierigen Dorfbewohner und stieß ein tiefes, bedrohliches Knurren aus.
    Cuihua und ich standen am Rand der Menge und betrachteten das wunderschöne wilde Tier. Noch nie hatte ich so leuchtende Farben, so lange Krallen gesehen. Ich trat näher an den Käfig heran und bückte mich, um in die durchdringenden, bernsteinfarbenen Augen des Tieres zu sehen. Der Tiger erwiderte meinen Blick. Ich konnte ihn riechen, seinen warmen Raubtieratem spüren. Er verharrte reglos. Und da tat er mir leid. Er erinnerte mich an mein eigenes Los. Ich war an diesem gottverlassenen Ort genauso gefangen wie er in diesem Käfig. Meine Lage und die

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