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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Klößchen heraus, schob es sich in den Mund, kaute, schluckte.
    »Die sind für meinen Papa!«, protestierte ich. Da schnappte er sich bereits das nächste. Ich griff nach seiner Hand. »Lass das!«
    Er packte mein Handgelenk und verdrehte es mir, sodass ich vor Schmerz aufschrie.
    »Du kleines Miststück«, brüllte er.
    Yicun begann zu weinen.
    »Zum Teufel mit dir«, schimpfte der Wachmann. »Hör auf! Ich versuche nur festzustellen, ob ihr konterrevolutionäre Nachrichten in den Klößchen schmuggelt.«
    Drinnen war es unruhig geworden. Mehrere Stimmen riefen: »Was geht da vor? Was ist los?«
    Schließlich ließ mich der Wachmann los und gab mir die Dose zurück. »Geht rein«, befahl er.
    In dem Haus standen mehrere Männer und Frauen im Kreis und starrten uns mit großen Augen an.
    Papa eilte uns entgegen und nahm Yicun auf den Arm. »Geht’s dir gut?«, fragte er.
    »Nein, Papa«, wimmerte Yicun.
    Ich gab ihm die eingewickelten Fleischbällchen. »Von Mama«, stieß ich unter Tränen hervor. »Alles Gute zum Geburtstag, Papa.«
    Schweigend standen die anderen da, die hungrigen Blicke auf die Klößchen geheftet.
    Wir waren noch nicht einmal fünf Minuten bei Papa gewesen, als der Wachmann rief: »Ende der Besuchszeit!«
    Ich nahm meinen Bruder bei der Hand, und wir gingen.
    Auf dem Heimweg bemerkte ich unweit unserer Wohnung eine neue Wandzeitung. »Nieder mit der aktiven Konterrevolutionärin Liang Nan«, stand darauf.
    Liang Nan – Tante Liang – war Xiaolans Mutter. Xiaolans Vater hatte ich gerade im Kuhstall bei Papa gesehen. Beim Weiterlesen erfuhr ich, dass Tante Liang ertappt worden war, wie sie auf einer Ausgabe der Tageszeitung saß, deren Titelseite ein Foto des Vorsitzenden Mao zierte. Deshalb war sie nun eine »aktive Konterrevolutionärin«.

Kapitel 24
    I m Herbst 1968 nahm die Kulturrevolution abermals eine neue Wendung: Die Partei erließ eine Anordnung, die die »Säuberung von Klassenfeinden« vorsah. Ziel war es, Klassenfeinde zu entlarven, umzuerziehen oder aus den revolutionären Massen zu entfernen. Mama musste zu einer Massenkundgebung gehen, auf der die neue Politik vorgestellt wurde.
    »Die kapitalistischen Intellektuellen unseres Landes wohnen in großen Häusern in der Stadt, und viele von ihnen führen ein kapitalistisches Leben«, verkündete der Anführer einer Propaganda-Gruppe. »Euren luxuriösen Lebensstil verdankt ihr der knochenharten Arbeit der armen und mittleren Bauern. Aufgrund dieser Kluft ist es euch Intellektuellen nicht möglich, zu begreifen, welche Kosten ihr in Wirklichkeit verursacht. Und es ist euch auch nicht möglich, euer Bewusstsein zu verändern, weil das Bewusstsein dem Sein entspringt. Seid ihr aber unfähig, euer eigenes Bewusstsein zu ändern«, so folgerte er, »so seid ihr auch ungeeignet, Schüler und Studenten zu unterrichten. Deshalb werden Lehrer und Studenten aller höheren Bildungseinrichtungen aufs Land geschickt, wo sie bei den Bauern leben, ihre Arbeit, ihr Essen, ihre Hütten und ihren Tagesablauf mit ihnen teilen und so von ihnen lernen werden. Aus dieser Erfahrung und nur aus ihr heraus kann eine echte Änderung des Bewusstseins und eine wahre Revolution herbeigeführt werden.«
    Die Dozenten und Studenten der Anhui-Universität, fuhr er fort, würden zu den Bauern der Volkskommune Wujiang im Kreis Hexian geschickt. Sie lag etwa hundertfünfzig Kilometer östlich von Hefei. Kinder waren von der Anordnung ausgenommen. Sie sollten im Kinderbetreuungszentrum der Universität untergebracht werden. Die Kosten für ihren Unterhalt würden den Eltern vom Gehalt abgezogen.
    Tief besorgt kam Mama nach Hause. »Ihr werdet hierbleiben«, sagte sie zu uns. »Aber Papa und ich müssen fort.«
    »Wann?«, fragte ich unruhig.
    »Wie lange?«, setzte Yiding hinzu.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Mama.
    Als Yicun zu wimmern anfing, nahm Mama ihn auf den Schoß und tröstete ihn. »Yimao und Yiding werden sich um dich kümmern. Und Papa und ich werden euch schreiben.«
    Mama sagte zu mir, ich sei alt genug, um auf meine Brüder aufzupassen und dafür zu sorgen, dass sie genug zu essen bekämen und sich jemand um sie kümmerte, falls sie krank würden.
    So wurde ich zum Elternersatz für meinen fünfjährigen Bruder und zur Beschützerin meines zwölfjährigen Bruders. Was von meiner Kindheit noch übrig war, ging jetzt zu Ende. Ich war gerade zehn Jahre alt.
    In den nächsten Wochen fanden zahlreiche Versammlungen statt, bei denen der Ablauf der

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