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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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hatte sich eine Erkältung geholt. »Sei ein braver Junge, Yicun«, sagte sie und drückte ihm beide Hände. »Bis bald.« Damit rannte sie zu ihrem Platz in der Kolonne zurück.
    Ich drehte mich nach meinem Vater um und zeigte Yicun, wo er ging. Papa sah uns hilflos an. Er zwang sich zu einem Lächeln, doch in seinen Augen glitzerten Tränen. »Auf Wiedersehen, Papa«, rief ich und winkte. Einen Augenblick später war er schon verschwunden.
    Hinter Papas Gruppe fuhr ein großer vierrädriger Karren, gezogen von mehreren Männern, die wie Pferde davorgespannt waren. Einer von ihnen war der Rektor, ein anderer der Parteisekretär der Universität. Auf dem Karren lagen das zusammengerollte Bettzeug und die Taschen der Rotgardisten und der Propaganda-Gruppe. Ganz am Ende des Zugs folgte ein leerer Bus, in dem nur der Fahrer saß. Er begleitete die Marschierenden für den Fall, dass jemand ohnmächtig zusammenbrach. Später musste man jedoch mit schweren Vorwürfen wegen konterrevolutionärer Erschöpfung rechnen.
    Nach sechs Tagen trafen die Marschierenden an ihrem Bestimmungsort ein und wurden auf verschiedene Dörfer verteilt. Mama wurde bei einer Familie im Dorf Liushan einquartiert. Eine junge Rotgardistin sollte mit ihr zusammenwohnen und den Funktionären über ihre Arbeitsleistung und ihr Verhalten berichten. Papa wies man zusammen mit elf anderen Kuh-Dämonen im Dorf Nan ein Zimmer in einer Bauernhütte zu. Tagsüber arbeiteten die Männer, abends nahmen sie an Kritikversammlungen teil. Dann legten sie sich zum Schlafen auf den nackten Boden, wie es bei den Bauern üblich war.
    Mama litt schrecklich, weil sie uns drei in Hefei hatte zurücklassen müssen. Noch nie war sie von meinem kleinen Bruder getrennt gewesen. Um nicht wegen bourgeoiser Gefühlsduselei angeklagt zu werden, durfte sie der jungen Rotgardistin ihre Gefühle nicht offenbaren. Aber sie machte sich derartige Sorgen, dass sie zeitweise den Verstand zu verlieren glaubte. Zudem fürchtete sie, krank zu werden und sich nicht mehr um uns kümmern zu können, wenn wir wieder vereint waren. Kaum waren die Wanderarbeiter untergebracht, verkündete der Leiter der Propaganda-Gruppe ein »Ehernes Gesetz«: »Es ist niemandem, unter keinen Umständen, erlaubt, nach Hefei zurückzukehren. Wenn jemand hier im Dorf stirbt, wird er auch hier begraben.« Damit sollten wohl Selbstmorde von Kuh-Dämonen und Schlangengeistern verhindert werden, mutmaßte Mama. Es gab keine Hoffnung, jemals nach Hause zurückzukehren, weder tot noch lebendig.
    Das Eherne Gesetz galt allerdings nicht für die Propaganda-Gruppe. Die Angehörigen der herrschenden Elite fuhren nach Belieben nach Hefei und kehrten mit warmen Kleidern und Essen für sich und ihre Genossen ins Dorf zurück.

Kapitel 26
    L angsam gewöhnten wir uns an das Leben im Kinderbetreuungszentrum. Die Mahlzeiten nahmen wir in einem Klassenzimmer ein, wo wir zusammen mit den kleineren Kindern aßen. Unabhängig vom Alter bekamen alle die gleiche Portion. Außerdem erhielt jedes Kind eine Blechtasse, und allmorgendlich standen in jedem Zimmer große Thermoskannen mit abgekochtem Wasser zum Trinken bereit.
    Die einzige Latrine, ein Raum mit mehreren Kabinen und Löchern im Betonboden, war in einen Knaben- und einen Mädchenbereich aufgeteilt. Aus der Wand ragten eiserne Leitungsrohre mit Hähnen, darunter verlief eine Abflussrinne. Dort putzten wir uns die Zähne und wuschen uns und unsere Kleidung. Warmes Wasser gab es nicht. Die Seife war rationiert: monatlich ein Stück pro Familie. Als Zahnpasta diente etwas, das wie weißer Klebstoff aussah und schmeckte und ebenfalls rationiert war.
    Der Koch war ein Mann mittleren Alters, den wir Onkel Liu nannten. Den größten Teil seines Lebens hatte er als Bauer auf dem Lande gelebt und gearbeitet. Er hatte dunkle, ledrige Haut und einen Schnurrbart – den ersten, den ich in meinem Leben sah. Kurz nach unserer Ankunft im Betreuungszentrum wurde Yiding Onkel Lius Gehilfe. Nach jedem Abendessen schmuggelte er in seinen Taschen Reste für Yicun, Xiaolan und mich heraus. Oft war es eine Handvoll Reis, den er aus einem Topf gekratzt hatte, manchmal brachte er uns auch ein wenig Fleisch oder Gemüse, das ihm Onkel Liu als Belohnung für seine schwere Arbeit zugesteckt hatte. Damit uns die anderen Kinder nicht verpetzten, mussten wir diese Extrahappen draußen verspeisen.
    Einmal im Monat durfte jeder von uns einen Brief an die Eltern schreiben. Allerdings musste am Anfang wie am

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