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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Umzüge und der Alltag des Landlebens erläutert wurden. Die Wohnungen blieben während der Abwesenheit der Bewohner verschlossen. Wenn jemand erfolgreich umerzogen worden war und nach Hause entlassen wurde, konnte er oder sie wieder in die frühere Wohnung einziehen. Bis dahin würde das Universitätsgelände eine Geisterstadt sein und nur das Kinderbetreuungszentrum in Betrieb bleiben. Am 20 . Dezember, einen Tag vor der geplanten Abreise, wurde Papa aus dem Kuhstall entlassen. Yicun wich den ganzen Tag nicht von seiner Seite.
    Am Nachmittag fuhr Mama mit dem Bus ins Stadtzentrum und kaufte uns Kindern Brot und Süßigkeiten, die wir ins Kinderbetreuungszentrum mitnehmen sollten. Für jeden von uns packte sie eine Tasche mit sorgsam ausgewählter Kleidung und rollte Strohmatten, Decken und Laken als Bettzeug für uns zusammen. Nach dem Abendessen band Mama mir eine Schnur mit einem Wohnungsschlüssel um den Hals. Falls wir noch mehr Kleider bräuchten, sagte sie, sollte ich sie von zu Hause holen. Als es für Yiding und mich Zeit wurde zu gehen, schulterten wir unser zusammengerolltes Bettzeug und nahmen unsere Taschen. Yidings Abschiedsworte waren: »Macht euch keine Sorgen, Mama und Papa.«
    »Mama, ich kümmere mich um alles«, bekräftigte ich. Doch am liebsten hätte ich losgeheult, wäre in mein eigenes Bett geschlüpft und daheimgeblieben. Ich blickte Mama in die Augen und sah, dass sie ebenfalls mit den Tränen rang.
    Im Kinderbetreuungszentrum erfuhr ich, dass sich sechs Mädchen ein Zimmer teilten, fünfzehn Jungen ein anderes. Kinder bis zu sechs Jahren brachte man in drei weiteren Räumen unter. Als ich in das mir zugewiesene Zimmer ging, sah ich Xiaolan. Sie lag auf ihrer Bettrolle und starrte an die Decke.
    »Xiaolan!«, quietschte ich vor Freude.
    »Maomao!«, rief sie und sprang auf.
    Nachdem wir mein Bettzeug neben ihrem ausgerollt hatten, saßen wir dort eine Stunde zusammen und fragten uns, wie das Leben in dieser Einrichtung wohl sein würde.
    Meine Eltern hatten Holzschilder beschriftet, die sie bei ihrem Marsch aus der Stadt tragen mussten. Papa hatte auf das seine geschrieben: »Es ist für jeden Menschen schwer, Fehler zu vermeiden, aber man sollte so wenige wie möglich machen. Hat man einen Fehler begangen, sollte man ihn korrigieren, und je schneller und gründlicher, desto besser.«
    Mama sagte zu Yicun, es sei Zeit, ihn ins Betreuungszentrum zu bringen. Sie nahm ihn auf den Arm, und Papa trug seine Bettsachen und seine Kleidertasche. So gingen sie durch die sternenlose Winternacht. Yicun schlang die Arme um Mamas Hals. »Ich will bei dir und Papa bleiben! Ich habe Angst.«
    »Yiding und Yimao sind auch im Zentrum, mein Schatz«, erinnerte Mama ihn. »Sie passen auf dich auf.«
    »Ich will nicht, dass ihr weggeht«, schluchzte er.
    Da blieben sie stehen. Papa stellte die Tasche ab und nahm Mama Yicun ab, der sogleich sein Gesicht in Papas Schulter vergrub.
    Im Kinderbetreuungszentrum schnauzte Genossin Pan: »Warum kommt ihr so spät?« Sie war eine der Erzieherinnen, die Yicun jeden Tag aufs Töpfchen setzten und ihm verboten, mit anderen zu spielen. Die dickliche Frau mit der winzigen Nase, schmalen Augen und großen vorstehenden Zähnen war Mitglied der Partei und hielt bei Kundgebungen leidenschaftliche Reden. Die Kinder fürchteten sich vor ihrem Jähzorn.
    »Tut mir leid«, antwortete Mama zerknirscht. »Wir mussten uns noch um so vieles kümmern.«
    »
Wir hier
müssen uns um vieles kümmern!«, blaffte Genossin Pan sie an. »Los jetzt!«
    »Wo wird er schlafen?«, fragte Mama.
    »Die Zwei- bis Vierjährigen sind dort drüben«, entgegnete Genossin Pan und deutete zu einem großen Zimmer, in dem bereits ein Dutzend Kinder ihre Matten und Decken ausgebreitet hatten.
    Mama kniete sich hin und rollte behutsam Yicuns Bettzeug aus, während dieser von Papas Arm aus zuschaute. Dann stellte Papa ihn auf den Boden und löste sachte Yicuns Hände von seinem Nacken. Da umklammerte Yicun Papas Bein und begann zu weinen. Andere Kinder setzten sich auf und schauten herüber, worauf Genossin Pan meinen Bruder und meine Eltern wütend beschimpfte.
    Als Yicun sich beruhigt hatte, wandten sich meine Eltern zum Gehen. Yicun drehte sich auf den Bauch, stützte das Kinn aufs Kissen und warf meinen Eltern stille, flehentliche Blicke nach. Nachdem sie draußen ein paar Schritte gegangen waren, drehte sich Mama plötzlich um und rannte zu einem Fenster. Papa folgte ihr. Sie sahen Yicun, der noch immer

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