Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Propaganda-Gruppen zu machen. Dieses Bündnis konzentrierte sich nun darauf, das Land von »unerwünschten Elementen« zu befreien. Vor allem richteten sich seine Aktivitäten gegen Kuh-Dämonen und Schlangengeister. In ihrer Bildungsfeindlichkeit und ihrer Verachtung gegenüber Intellektuellen standen die Propaganda-Gruppen den Rotgardisten in nichts nach. An der Anhui-Universität wurden die Fakultät und das Kollegium nach militärischen Grundsätzen organisiert.
Mein Vater wurde einer Gruppe von einhundert Männern und Frauen zugeteilt, die täglich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiteten. Vermeintliche ideologische Abweichler und Bummelanten wurden geschlagen und gefoltert. Die Professoren mussten die Grausamkeiten mit ansehen und die Betroffenen ebenfalls verurteilen, um selbst als gute Revolutionäre zu gelten. Im September beschloss die Propaganda-Gruppe, die schlimmsten Kuh-Dämonen und Schlangengeister zu isolieren. Achtzig Männer und Frauen wurden in einem als »Kuhstall« bezeichneten Studentenwohnheim einquartiert. Man teilte sie in Gruppen zu je acht Personen auf, die in winzigen Zimmern wohnen mussten. Nach der Zwangsarbeit wurden sie abends einem strengen Verhör durch die Propaganda-Gruppen unterzogen, und für unbefriedigende Antworten gab es Schläge.
Ein junger Lehrer versuchte fortzulaufen. Doch wohin sollte er fliehen? Ganz China war ein einziges Gefängnis geworden. Er wurde am Bahnhof gefasst, zum Kuhstall zurückgeschleppt, an den gefesselten Handgelenken aufgehängt und die ganze Nacht lang geschlagen. Die anderen Häftlinge mussten bei der Bestrafung zusehen und im Chor Worte des Vorsitzenden Mao skandieren, um die Schreie des Mannes zu übertönen.
Immer wieder hörten wir, dass ein Mann oder eine Frau bewusstlos geprügelt worden war. Viele zerbrachen daran. Eine Mathematiklehrerin trank DDT und starb in ihrer Küche. Ein Geschichtsdozent und seine Frau erhängten sich nebeneinander in ihrem Schlafzimmer. Ein Professor für französische Literatur schnitt sich im Kuhstall die Pulsadern auf, und ein Chemiker sprang aus dem Fenster seiner Wohnung. Andere wurden tot in ihren Betten aufgefunden und wiesen Anzeichen von Misshandlungen auf, aber es blieb unklar, ob sie sich umgebracht hatten oder infolge der Schläge gestorben waren. Selbstmord galt als Verbrechen gegen die Partei und das Volk. Hatte man ein Opfer entdeckt, wurde eine öffentliche Kundgebung veranstaltet, um den Toten zu verunglimpfen. Danach karrte man die Leiche zu einer Müllhalde vor der Stadt, wo sie von wilden Hunden gefressen wurde. Wer an den Schlägen starb, wurde verbrannt, seine Asche weggeworfen.
An Samstagabenden war es Angehörigen gestattet, die Kuh-Dämonen zu besuchen. Als Mama zum ersten Mal zu Papa kam, sagte er, sie solle sich keine Sorgen um ihn machen. »Mein Überlebenswille lässt sich nicht brechen.« Die meisten, die sich umbrachten, seien junge Lehrer und Beamte, betonte er. »Aber wir Älteren«, fuhr er fort, »haben das alles schon einmal durchgemacht. Wir wissen, dass es irgendwann zu Ende sein wird. Doch die Jüngeren glauben, es würde ewig so weitergehen. Sie sehen keinen Sinn mehr im Leben. Aber ich habe dich und die Kinder. Ich habe Hoffnung.«
»Ich auch«, beteuerte Mama.
Yicun und ich besuchten Papa an seinem Geburtstag in der zweiten Woche seiner Haft. Zur Feier des Tages kochte ihm Mama eine Schüssel Fleischbällchen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich ihr dabei zusah. Ich konnte mich kaum erinnern, wann wir das letzte Mal Fleisch gegessen hatten. Wie gerne hätte ich Mama um ein Bällchen gebeten – nur ein einziges. Aber ich blieb stark. Sie tat die gekochten Klößchen in eine Aluminiumdose und wickelte den Behälter in ein Handtuch, um den Inhalt warm zu halten. Dann gingen Yicun und ich mit dem Geschenk zum Kuhstall. Am Eingang hielt uns ein Wachmann in Zivil an. »Verschwindet, Kinder! Das ist hier kein Spielplatz.«
»Wir wollen unseren Papa, Wu Ningkun, besuchen«, erwiderte ich.
»Was ist das?«, fragte der Mann und deutete auf die Dose.
»Ein Geburtstagsgeschenk.«
»Mach es auf.«
Ich klappte den Deckel hoch. Der Wachmann nahm mir die Dose aus der Hand, schaute hinein, hielt sie sich schnüffelnd an die Nase und beäugte mich misstrauisch. Dann steckte er einen Finger in den Behälter und rührte darin herum. »Fleischbällchen, was? Für deinen Vater zum Geburtstag?«
»Ja«, entgegnete ich. »Und sie werden gleich kalt.«
Er fischte ein
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