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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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auf dem Boden lag. Seine kummervolle Miene zerriss Mama schier das Herz. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen, und Papa begann zu weinen.
    Ich hatte mich im Flur versteckt, um vielleicht noch einen letzten Blick auf sie zu erhaschen. So sah ich, wie sie sich langsam entfernten, zwischen den vielen Reihen lichtloser Wohnheime und Unterrichtsgebäude, die den Weg säumten wie geisterhafte Ruinen einer ausgestorbenen Zivilisation.

Kapitel 25
    A m frühen Morgen wurden wir Kinder des Kinderbetreuungszentrums von den Erzieherinnen geweckt. Frühstück gab es keines. Stattdessen marschierten wir zu einem bestimmten Straßenabschnitt. Jedem wurde ein Papierfähnchen mit einem Zitat des Vorsitzenden Mao in die Hand gedrückt, das wir über dem Kopf schwenken sollten, sobald sich die Demonstranten näherten. Auf ein Zeichen unserer Betreuerinnen hin sollten wir gemeinsam Parolen rufen, so laut wir konnten.
    Auf dem Sportplatz versammelten sich dreitausend Erwachsene. In den vorderen Reihen standen die revolutionären Dozenten, Angestellten und Studenten der Fakultät. Dahinter hatten die Kuh-Dämonen und die übrige Polit-Menagerie der Universität in vier langen Reihen Aufstellung genommen. Der Leiter der Propaganda-Gruppe richtete das Wort an sie: »Unsere Reise führt uns hundertfünfzig Kilometer weit. Wir werden die Strecke in sechs Tagen bewältigen. Lasst uns nun
unseren
Langen Marsch beginnen.« Er gab ein Zeichen, worauf alle jubelten und mit dem Kleinen Roten Buch in der Hand winkten. Die Kolonnen machten kehrt, die Reise begann.
    Ein paar Häuserblocks entfernt hörte ich eine Art Donnergrollen. Als ich ein paar Schritte aus der Gruppe der Kinder heraustrat, sah ich eine riesige Menschenmenge, Männer und Frauen, herankommen. Die Demonstranten in den ersten Reihen schwenkten das Kleine Rote Buch, während sie die andere Hand zur Faust geballt gen Himmel reckten. Sobald die Menge sich näherte, stimmten die Menschen, die in Fünfer- und Sechserreihen die Straße säumten, in die Parolen ein. Hunderte von Zuschauern schlugen Trommeln und Becken dazu, und auf jeden ihrer lärmenden Einsätze antworteten die Demonstranten mit Parolen. Yicun hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und schaute fragend zu mir auf: Was hatte dieser Wahnsinn zu bedeuten? Ich versuchte es ihm zu erklären, aber ich konnte mein eigenes Wort nicht verstehen. Als die ersten Demonstranten nur noch wenige Meter entfernt waren, sprangen die Erzieherinnen in die Höhe und schwenkten ihre Spruchbänder. Dabei brüllten sie die Kinder an, sie sollten in ihre Sprechchöre einfallen. Die Kleineren begannen zu weinen. Ich hielt Yicun hoch, damit er über die Köpfe der anderen hinweg sehen konnte.
    »Lang lebe der Große Führer, der Vorsitzende Mao«, schrie eine Aufseherin. »Lang lebe der Große Führer, der Vorsitzende Mao«, wiederholten wir schrill.
    »Lang lebe der revolutionäre Weg des Vorsitzenden Mao«, riefen uns daraufhin die Demonstranten zu, und die Erzieherinnen antworteten: »Lang lebe der revolutionäre Weg des Vorsitzenden Mao.« Und auf ein Zeichen der Betreuerinnen hin intonierten die Kinder mit ihren hellen Stimmen: »Lang lebe der revolutionäre Weg des Vorsitzenden Mao.«
    Genossin Pan sprang immer wieder hoch, fuchtelte mit den Armen und brüllte Parolen. Sie warf den Kopf von einer Seite zur anderen, als wäre sie ein Hund, der nach einer Fliege schnappt, und bespuckte dabei alle Umstehenden. Bei einem neuerlichen Luftsprung landete sie auf dem Fuß einer anderen Betreuerin. Beide Frauen kreischten auf. Genossin Pan verlor das Gleichgewicht und lag plötzlich mitten auf der Straße. Sie streckte alle viere von sich, während die Teilnehmer des Zuges einfach um sie herum marschierten. Keiner bot ihr Hilfe an. Langsam erhob sich Genossin Pan und hinkte zum Straßenrand. Sie wirkte benommen. Eine andere Betreuerin beugte sich zu ihr vor und schrie ihr eine Parole ins Gesicht. Darauf stimmte Genossin Pan wieder in das Gebrüll ein – allerdings weniger enthusiastisch als zuvor und ohne revolutionäre Sprünge.
    Ich sah Mama und, kurz dahinter, auch Papa. Beide krümmten sich unter der Last ihrer Bündel. »Dort sind Mama und Papa!«, sagte ich zu Yicun.
    Ich stellte ihn auf den Boden, nahm ihn bei der Hand und rannte zu Mama. Sie scherte aus ihrer Reihe aus und kam auf uns zu.
    »Mama!«, schrie ich. Sie umarmte Yicun, dann musterte sie sein Gesicht und zog ein Taschentuch heraus, um ihm seine laufende Nase zu putzen. Er

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