Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Schwester.
Als ich an einem Spätnachmittag den
Graf von Monte Christo
ausgelesen hatte, waren meine Augen müde geworden. Ich legte den dicken Wälzer auf den Boden und wiederholte die letzten drei Worte, die Dumas geschrieben hatte: »Harren und hoffen.« Das hatten auch Mama und Papa bei unserem Neujahrsessen gesagt. Ob sie das Buch gelesen hatten und genauso begeistert gewesen waren wie ich? Ich stand auf und streckte mich. Mir kam der Gedanke, ich könnte in dem angrenzenden Gebäude nachsehen, ob sich dort noch mehr Bücher befanden. Während meiner wochenlangen einsamen Lektüre hatte ich nie ein Geräusch aus diesem Haus gehört. Und es war auch nie jemand hineingegangen oder herausgekommen.
Die Tür war unverschlossen. Ich trat in einen langen Korridor, der nur von dem schwachen Tageslicht erhellt wurde, das durch ein zerbrochenes Fenster am anderen Ende hereinfiel. Es roch nach altem Verputz und Schimmel. Bis auf das Schlurfen meiner Schritte auf dem mit Steinchen übersäten Boden war alles still. Am Ende des Flurs bog ich um eine Ecke und bemerkte ein Schild über einer Tür, auf dem »Übertragungsraum« stand. Ich fasste an die Tür. Sie war wie mit einer Steppdecke dick gepolstert. Als ich das Ohr daranlegte, hörte ich von drinnen eine gedämpfte Stimme, die mir bekannt vorkam.
Neugierig geworden, öffnete ich die Tür einen Spalt weit. Ein Mann mit großen Kopfhörern saß an einem Tisch und sprach in ein Mikrofon. An der Wand über seinem Tisch befand sich eine kleine Schalttafel mit leuchtenden roten und grünen Lämpchen, den Boden bedeckte ein Gewirr aus Kabeln. Der Mann las aus den
Worten des Vorsitzenden Mao
. Ich kannte diese Stimme. Es war dieselbe, die ich Tag für Tag aus den Lautsprechern des Campus hörte. Intonation und Tempo waren perfekt an die vertraute Welle des Hasses angepasst.
Es war faszinierend, ihm zuzusehen. Er vollführte wilde, dramatische Gesten und beugte sich immer wieder in seinem Sessel vor, als spräche er vor Zuschauern. Seine Bewegungen und seine melodramatische Modulation erinnerten mich an eine chinesische Oper, die ohne Masken, Kostüme und Handlung aufgeführt wird. Leise schloss ich die Tür und sah mich im Rest des Gebäudes um. Ich ging in vier weitere Räume, die alle dunkel und verwaist waren. In einem befanden sich leere Bücherregale. Vielleicht konnte ich ja eines der Bretter als Brennmaterial mitnehmen. Aber als ich es loszumachen versuchte, merkte ich, dass es festgenagelt war.
Also kehrte ich zurück zum Hintereingang. Als ich am Übertragungsraum vorbeikam, stellte ich fest, dass der Verputz der Mauer bröckelig geworden war. Teilweise fiel er bereits ab. Darunter kamen schmale, senkrechte Holzlatten zum Vorschein. Eine schien lose zu sein und sich leicht abreißen zu lassen. Daher packte ich sie und zog vorsichtig daran, um möglichst wenig Lärm zu machen. Doch sie gab nicht nach. Ich überlegte schon, ob ich nicht aufgeben und zu meinen Büchern zurückkehren sollte. Andererseits wäre Mama entzückt, wenn ich ihr ein Bündel Latten mitbrächte.
Ich umklammerte die Latte mit beiden Händen, stemmte mich dagegen und riss mehrmals ruckartig daran. Das Holz bog sich, wollte aber weder brechen noch sich von der Wand lösen. Schließlich stellte ich fest, dass es von kleinen Nägeln gehalten wurde. Mühsam zog ich einen nach dem anderen heraus und ließ sie zu Boden fallen. Und dann unternahm ich einen letzten Versuch. Plötzlich gab es eine Explosion. Mörtelbrocken und Holzteile regneten herab und trafen mich an Kopf und Schultern. Schützend hielt ich mir die Hände über den Kopf, wurde aber zu Boden gerissen. Eine undurchdringliche, stickige Wolke umhüllte mich. Ich schnappte nach Luft und versuchte, etwas zu sehen. Mit einem Mal tauchte vor mir ein grelles Licht auf. Neben der Lichtquelle zeichnete sich ein Gesicht ab.
Es war der Rundfunksprecher. Ein Teil der Mauer zwischen dem Studio und dem Korridor war eingestürzt, dort klaffte nun ein großes Loch. Die Kopfhörer auf den Ohren und das Mikrofon in der Hand, stand der Sprecher in seinem Studio, über und über mit Mörtelstaub bedeckt. Sein Mund bewegte sich, aber ich hörte nichts außer einem lauten Klingeln in den Ohren. Wir starrten einander an und versuchten, die Situation zu begreifen. Als meine Ohren wieder funktionierten, hörte ich den Mann brüllen: »Was zum Teufel ist hier los?«
Ich rannte zur Tür.
Der Sprecher sprang mir durch das Loch nach, stolperte jedoch und
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