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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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landete mit einem Purzelbaum in dem Schutt auf dem Boden. Weitere Trümmer von Wand und Decke stürzten auf ihn herab. Er stieß Schmerzensschreie aus, vermischt mit Flüchen und Drohungen. Auf dem Weg zum Ausgang drehte ich mich kurz um und sah den Mann auf allen vieren im Staub krabbeln, während Holz- und Verputzteile weiter auf ihn herunterprasselten. Doch er schwenkte drohend sein Mikrofon wie einen Knüppel in meine Richtung. Das ausgefranste Kabel tanzte über seinem Kopf hin und her, während ihn Staub und Schutt begruben.
    Ich floh an meinem geliebten Bücherhaufen vorbei. Obenauf lag
Der Graf von Monte Christo,
ein paar Seiten flatterten im Wind. Einen Moment zögerte ich und warf einen letzten Blick darauf, ehe ich die Gasse hinuntersauste und in die Straße einbog. Die Lautsprecher an den Pfosten und Bäumen entlang der Straße gaben ein elektrostatisches Rauschen und Knistern von sich. Verwundert deuteten die Passanten darauf und unterhielten sich aufgeregt. Doch ich lief immer nur weiter. Den ganzen Abend verfolgte mich die Angst, der Rundfunksprecher könnte mich erkannt haben. Gleich würde es an der Tür klopfen, und Rotgardisten würden hereinstürmen, um mich abzuführen.
    Am nächsten Morgen hörte ich über die Lautsprecher eine fanatische Stimme, die bekannt gab: »Genossen Revolutionäre, wir haben einen geschickt getarnten Klassenfeind entlarvt. Es wird deshalb eine öffentliche Kritikversammlung um 19  Uhr auf dem Sportplatz stattfinden. Alle revolutionären Lehrer, Studenten, Schüler und Angestellten haben daran teilzunehmen.«
    Nach dem Abendessen ging ich zum Sportplatz, um mir das Spektakel anzusehen. Ich stand mitten in der Menge, als ich den Mann erkannte, der da mit einer Schandmütze auf der Bühne stand. Es war der Rundfunksprecher. Die Arme waren ihm auf dem Rücken gefesselt, und die Roten Garden drückten ihm die Handgelenke so nach oben, dass er sich schmerzvoll gekrümmt vorbeugen musste. Von meinem Platz aus sah ich, dass sein Gesicht übel zugerichtet und ein Auge zugeschwollen war. An seinem Hals baumelte ein Schild mit seinem durchgestrichenen Namen, und darüber stand: »Aktiver Konterrevolutionär«.
    Der Anführer der Roten Garden verkündete die Verbrechen des Rundfunksprechers: »Dieser aktive Konterrevolutionär unterbrach gestern im öffentlichen Rundfunk die Worte des Großen Steuermanns, der allerrötesten Sonne unserer Herzen, des großen Vorsitzenden Mao, und begann zu fluchen.«
    Im Rhythmus der Worte ohrfeigten die Rotgardisten den Sprecher. »Bekenne deine Verbrechen«, schrien sie im Chor.
    »Ich warne dich«, rief ihr Anführer. »Du solltest besser gestehen. Jeder hier hat deinen konterrevolutionären Unflat gehört.«
    Ein Rotgardist hielt dem Mann ein Mikrofon vor den Mund, doch er weinte und konnte nicht sprechen.
    Der Anführer fuhr fort: »Und dieser Klassenfeind hat sich nicht nur der revolutionären Gerechtigkeit zu entziehen versucht, er hat uns beim Verlassen seines Studios auch zu einem geheimen Versteck mit verderbten, bourgeoisen Büchern geführt, die er hinter dem Gebäude verbarg. Offensichtlich hat er sie gelesen, bevor er den Vorsitzenden Mao beleidigte.«
    »Gestehe! Gestehe! Gestehe!«, schrie die Menge.
    Der Anführer hob die Hand, und die Menschen verstummten. Ein Rotgardist hielt dem Mann wieder das Mikrofon hin.
    »Ich … ich … ich …«, stammelte er. »Es war ein Mädchen. Oder ein Junge. Ein Kind … es hat die Wände meines Studios zum Einstürzen gebracht …«
    Da schlug ihm ein Rotgardist mit der Faust auf den Mund. Der Kopf des Sprechers wurde zurückgeschleudert, bevor er nach vorne fiel. Aus Nase und Mund lief ihm Blut auf die nackte Brust. Die Schandmütze hing schief auf seinem Kopf.
    »Milde denen, die ihre Verbrechen gestehen. Härte jenen, die uneinsichtig sind«, skandierte der Chor der Rotgardisten, und die Menge wiederholte die Losung.
    Angst und Gewissensbisse erfüllten mich. Ich musste von hier verschwinden. So schob ich mich an schreienden Erwachsenen und Kindern vorbei und entfernte mich rasch von der Versammlung, während mir unentwegt der Sprechchor in den Ohren gellte: »Härte jenen, die uneinsichtig sind.«

Kapitel 23
    I m Frühjahr 1968 wurde die Verwaltung der Universitäten den Maoistischen Propaganda-Gruppen – einem Zusammenschluss von Soldaten und Arbeitern – übertragen. Zugleich wurden die Roten Garden gezwungen, ihre Fehden untereinander einzustellen und gemeinsame Sache mit den

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