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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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die Glühbirne holen. Shuizis Vater tat wie geheißen. Doch Junge Krabbe sah, dass er beim Abisolieren mehrmals die Ummantelung mitsamt Draht durchschnitt. Nach einer Weile meinte der Sohn des Leiters: »Lass mich das machen.«
    Alte Krabbe ging jedoch nicht nach Hause, sondern lief zum Dorfrand, wo sich der Hauptschalter für die Stromversorgung befand. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand ihn beobachtete, schaltete er den Strom ein, wartete ein paar Sekunden und legte den Schalter wieder um. Anschließend ging er heim, holte die Birnenfassung und kehrte zur Hütte von Shuizis Vater zurück. Da lief ihm bereits Shuizis Vater entgegen. »Wo bist du denn so lange geblieben?«, wollte Shuizis Vater wissen.
    »Ich habe die Fassung nicht gleich gefunden«, log Alte Krabbe. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
    »Was soll mir schon fehlen?«, gab Shuizis Vater zurück.
    Als sie die Hütte betraten, sahen sie Junge Krabbe auf dem Boden liegen. Shuizis Vater drehte ihn um. Die Augen waren geöffnet, auf seinem Gesicht lag ein erstaunter Ausdruck. Seine Hände waren schwarz. Nachdem Shuizis Vater seinen Puls gefühlt hatte, sagte er: »Er ist tot. Wie ist das möglich?«
    Alte Krabbe sank neben seinem Sohn auf die Knie und rief aus: »Mein Sohn! Mein Sohn! Ich habe dich umgebracht!«
    »Was meinst du damit, dass du ihn umgebracht hast?«, fragte Shuizis Vater.
    Alte Krabbe schlug die Hände vors Gesicht. »Warum
mein
Sohn?«, jammerte er.
    Andere Dorfbewohner hörten das Wehklagen und kamen in die Hütte. Auf ihre Fragen, was geschehen sei, konnte Shuizis Vater keine befriedigende Antwort geben. »Gerade eben hat er noch die Leitung gelegt, und plötzlich lag er tot auf dem Boden.« Die Leute schüttelten den Kopf. Es war eine rätselhafte Sache. Die geschwärzten Hände konnte sich niemand erklären. Womöglich, so flüsterten manche, war der Fuchsgeist zurückgekehrt. Vielleicht hatte er jetzt Rache genommen.
    Am nächsten Tag beerdigten die Dorfbewohner Junge Krabbe. Vertreter der Kommunistischen Partei waren erschienen und ergingen sich in Lobreden auf den jungen Mann und seinen Vater. Alte Krabbe war untröstlich.
    Da nun unsere Hütte ans Stromnetz angeschlossen war, konnten wir endlich Radio hören. Unser Radioempfänger war eine Neuheit im Dorf. Die Leute strömten in unsere Hütte, setzten sich zu uns und lauschten, was aus dem Apparat kam. Es war ein Modell der Marke »Drei Ziegen« (San Yang) und hatte fünf große Röhren in seinem Inneren. Das war unser Schatz. Den Dorfbewohnern blieb es unbegreiflich, wie aus einem kleinen Kasten so viel Lärm kommen konnte. Dergleichen hatten sie noch nie gehört.
    Abends stellte Papa den Empfänger auf Voice of America, um englischsprachige Nachrichten von außerhalb Chinas zu hören. Meinen Englischkenntnissen und denen meines älteren Bruders war es sehr dienlich, dass wir mit Papa zusammen Radio hören durften. Mochte unser Vater mitunter etwas ungeduldig sein – das Radio war ein unendlich nachsichtiger Lehrer.
    So verbesserte sich unser Englisch. Aber die Englischlehrerin blieb nicht lange an meiner Schule. Als sich die Linie der Partei änderte, kehrte sie nach Nanjing zurück. Eines Tages packte sie all ihr Hab und Gut, ging zur Straße und verschwand in Richtung der Bushaltestelle. Später erfuhren wir, dass sie in einer Fabrik arbeitete. Mir schien, als suchten all die Landverschickten vom Tag ihrer Ankunft an einen Weg, wie sie wieder in die Stadt zurückkehren konnten. Von den Bauern zu lernen war wie in einem Gefängnis zu leben.

Kapitel 43
    A uf einem Stück Brachland am Ortsrand legten mein älterer Bruder und ich einen Garten an. Da man den Boden dort für unfruchtbar hielt, erhob niemand sonst Anspruch darauf, und Alte Krabbe teilte es uns zu. Wir pflügten die Erde um und reicherten sie mit kübelweise Dung aus unserer Abwassergrube an. Mein Bruder lernte, unser kleines Stück Land sachkundig zu bewässern und zu düngen. Da wir uns jeden Tag nach der Schule darum kümmerten, hatten wir binnen kurzer Zeit den ertragreichsten Garten des ganzen Dorfes.
    Ein Bruder meiner Mutter war Diplomlandwirt. Er schickte uns Samen von sehr widerstandsfähigen Gemüsesorten aus Tianjin. Und so fiel unsere Ernte im Vergleich zu denen der anderen riesig aus, manche unserer Rüben wogen fünf Pfund. Doch es dauerte nicht lange, und allnächtlich verschwanden unsere größten Rüben und Chinakohlköpfe. Nur das Gemüse um unser Haus herum war dank des Aberglaubens

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