Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
eine unvorsichtige Frau fand, fuhr er in sie und verleitete sie zu sexuellen Ausschweifungen. Dieser Aberglaube stand zwar im Gegensatz zum sozialistischen Denken der Kommunistischen Partei und des Vorsitzenden Mao. Doch wie viele andere Mythen lebte auch dieser auf dem Lande ungehindert fort. Alle Bemühungen der Partei, solche provinziellen Vernunftwidrigkeiten auszurotten, waren kläglich gescheitert.
»Was wollen sie dagegen tun?«, wollte ich wissen.
»Du glaubst nicht daran, stimmt’s, Yimao? Deine Eltern sind Lehrer. Du weißt es bestimmt besser.«
»Natürlich glaube ich das nicht«, sagte ich. »Aber was wird Alte Krabbe dagegen unternehmen?«
»Alte Krabbe hat sich von meinem Vater zwei Flaschen guten Wein geben lassen. Damit will er das Medium Zhang aus dem Dorf Zhang herlocken, damit es den Fuchsgeist aus mir austreibt.«
»Und wirst du dann Junge Krabbe heiraten?«
»Junge Krabbe? Lieber sterbe ich«, entgegnete sie.
Sie vertraute mir an, dass sie einmal spätabends Shuizi zu Hause besucht und mit seinem Vater gesprochen hatte. »Er hat gesagt, er würde uns helfen.«
»Bist du da sicher?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich hoffe es. Kennst du die Geschichte von Shuizis Mutter?«
»Ich habe sie nie gesehen.«
»Sie starb bei der Geburt von Shuizi«, erzählte Jinlan. »Shuizis Vater hat danach nicht mehr geheiratet. Es heißt, er leide noch immer an gebrochenem Herzen. Er weiß, was Shuizi und ich füreinander empfinden.«
»Ich hoffe wirklich, dass du Shuizi heiraten kannst«, platzte ich heraus.
Sie nahm meine Hand. »Ich auch«, sagte sie. Und dann mussten wir beide weinen.
Einige Tage später ging Alte Krabbe von Hütte zu Hütte und erklärte, er habe ein Geistermedium ins Dorf bestellt. Während des Exorzismus müssten alle Türen und Fenster geschlossen bleiben, damit der ausgetriebene Fuchsgeist nicht Besitz von uns ergriff. Wenn der Dämon kein neues Opfer in unserem Dorf fand, würde er weiterziehen.
Tags darauf kam das Medium Zhang. Alte Krabbe lief die Wege zwischen den Hütten entlang, schlug auf seinen Gong und rief: »Bleibt in euren Hütten. Schließt die Fenster. Schließt die Türen. Kommt erst heraus, wenn ich es euch sage.«
Ein paar handverlesene Männer, die mindestens vierzig Jahre alt sein mussten, durften dem Exorzisten behilflich sein. Es war ein warmer Tag, der Himmel wolkenverhangen. Gleich nachdem Alte Krabbe allen befohlen hatte, drinnen zu bleiben, fing es an zu regnen.
Unsere Hütte lag unweit des Lagerschuppens, in dem angeblich der Fuchsgeist in Jinlan gefahren war. Dort sollte der Exorzismus stattfinden. Während meine Eltern gehorsam Tür und Fenster schlossen, ging ich in mein Zimmer, öffnete das Fenster einen Spalt weit und spähte hinaus. Eine Fuchsgeistjagd – so etwas hatte ich noch nie gesehen.
Ich schaute in den Regen hinaus und sah, wie sich die Rinnsale auf den Wegen in kleine Bäche verwandelten. Schließlich konnte ich eine Bewegung hinter dem Regenschleier ausmachen. Mehrere Gestalten tauchten auf. Es waren acht Männer aus dem Dorf – die Gehilfen des Geisterfängers – mit einer Trage. Als sie an unserer Hütte vorbeikamen, erkannte ich, dass Jinlan darauf festgebunden war. Sie starrte in den Regen, als wäre sie in Trance. In ihrer Stirn, ihren Brüsten und ihren Oberschenkeln steckten lange Akupunkturnadeln.
Am Ende der Prozession ging der Exorzist. In der Hand hielt er einen drei Meter langen Stock, an dessen Ende ein Bündel Hahnenfedern baumelte. Er schwenkte sie im Regen hin und her wie einen Fächer. In der anderen Hand trug er ein Bündel Räucherstäbchen. Der Regen hatte die meisten ausgelöscht, doch von einigen stiegen noch Rauchfähnchen empor. Immer wieder sprach der Exorzist geheimnisvolle Beschwörungsformeln. Seine Stimme schwang sich in kreischende Höhen hinauf, dann sank sie in heisere Basstiefen herab. In düsterem Tonfall wiederholten die Männer den Singsang. Alte Krabbe führte die Prozession durch den strömenden Regen an.
»Was werden sie mit Jinlan machen?«, rätselte ich. »Und weshalb haben sie sie nackt ausgezogen?«
Ich schlich mich aus der Hütte und folgte dem Zug in sicherer Entfernung, stets darauf bedacht, außer Sichtweite zu bleiben. Als die Männer den Lagerschuppen betraten, lief ich zur Rückseite des Gebäudes. Da wir ja eine Zeit lang darin gewohnt hatten, wusste ich, dass es dort zwischen der Mauer und dem Dach eine Ritze gab. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, konnte ich
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