Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Schuppen herumgehen, schlich ich schnell nach Hause. Ich ging in mein Zimmer und wartete. Zwei oder drei Minuten später hörte ich, wie Alte Krabbe auf seinen Gong schlug und rief: »Der Fuchsgeist ist fort. Ihr könnt wieder rauskommen.«
In den nächsten Wochen wurden die letzten Vorbereitungen für die Hochzeit von Jinlan und Junge Krabbe getroffen. Die Zeremonie war für das Mondfest vorgesehen. Einige Male begleitete ich Jinlan, wenn sie den Wasserbüffel zur Weide trieb. Doch ich erzählte ihr nie, was ich gesehen hatte. Und auch sie sprach nie darüber. Ich fragte mich, ob man ihr zusätzlich zur Akupunktur irgendeinen Trank verabreicht hatte, damit sie das Bewusstsein verlor und sich nicht erinnern konnte, was man ihr angetan hatte.
Wenn wir uns trafen, machte Jinlan einen wehmütigen Eindruck. Nie redete sie von ihrer bevorstehenden Hochzeit, sondern immer nur von Shuizi.
»Jinlan«, fragte ich, »wie willst du die Heirat mit Junge Krabbe verhindern?«
»Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«, fragte sie zurück, und ihre Augen glänzten.
»Ja«, antwortete ich. »Du bist meine beste Freundin.«
»Ich bekomme ein Kind von Shuizi. Wir werden durchbrennen.«
»Wohin denn?«
»Shuizis Vater hat einen Kriegskameraden in Shenyang. Er hat dem Mann das Leben gerettet, als sie in Korea gegen die Amerikaner kämpften. Er trug ihn aus der Gefechtszone, als er verwundet war. Bei ihm werden wir wohnen, und dort werde ich auch das Baby zur Welt bringen. Shuizis Vater hat alles arrangiert.«
»Du wirst mir fehlen, Jinlan«, sagte ich, schlang die Arme um ihren Hals und begann zu weinen. »Wirst du je zurückkommen?«
»Erst wenn Alte Krabbe tot ist«, erwiderte sie, ebenfalls unter Tränen.
»Aber Alte Krabbe stirbt nie«, heulte ich. »Du wirst nie zurückkommen.«
»Doch«, beteuerte sie. »Und dann bringe ich mein Baby mit und lasse es dich halten.«
»Wenn es ein Mädchen wird, Jinlan«, sagte ich, »versprich mir, dass du es behältst. Versprich mir, dass du es nicht wegwirfst.«
»Versprochen«, flüsterte sie. »Mach dir keine Sorgen.«
Zwei Tage vor der Hochzeit verschwanden Jinlan und Shuizi. Alte Krabbe und sein Sohn waren außer sich vor Wut. Sie stellten Suchtrupps zusammen, die in den nächsten Wochen die Umgebung durchkämmten, und fragten in den Nachbardörfern herum, ob jemand etwas über ihren Verbleib wusste.
Jinlans Eltern waren untröstlich. Sie verstanden nicht, wie ihre Tochter ihnen so etwas Unehrenhaftes antun konnte. Offensichtlich hatte Alte Krabbe sie belogen, und es war dem Exorzisten nicht gelungen, den Fuchsgeist auszutreiben. Das wollte Alte Krabbe nicht auf sich sitzen lassen, und er forderte von Jinlans Eltern das Brautgeld zurück. Schließlich hätten sie wissen müssen, dass ihre Tochter eine kleine Hure sei. So eine hätte sein Sohn doch niemals geheiratet!
Noch im selben Jahr gab Alte Krabbe die neuerliche Verlobung seines Sohn bekannt. Die Braut stammte aus einem Nachbardorf und war die Tochter des Leiters der dortigen Produktionsgemeinschaft. Nach dem Frühlingsfest sollte die Hochzeit stattfinden. Einstweilen gab es aber noch eine andere aufregende Neuigkeit: Es hieß, unsere Hütten würden bald elektrifiziert werden. Seit wir in Gao wohnten, hatte es nur einen einzigen Stromanschluss gegeben, und dieser wurde ausschließlich für die Lautsprecher benutzt. Zur Beleuchtung unserer Hütten verwendeten wir Kerosinlampen und Kerzen. Die Kommunenleitung ersuchte nun jedes Dorf, eine Person ins Hauptquartier zu schicken, die für die Elektrifizierung ausgebildet werden sollte. Alte Krabbe schickte seinen Sohn zu dem Kurs. Nach einem Tag Unterricht durfte sich Junge Krabbe »Elektriker« nennen und wurde beauftragt, das Dorf Gao zu elektrifizieren.
Eine Hochspannungsleitung führte von der Kommune zum Dorf. Junge Krabbe ging von Hütte zu Hütte und verlegte Stromkabel. Natürlich wurde die väterliche Hütte als erste angeschlossen, obwohl sie keineswegs in der Nähe der Stromquelle lag. Alte Krabbe überwachte die Arbeit seines Sohnes und half ihm bei Bedarf. Eines Nachmittags kam dann die Hütte von Shuizis Vater an die Reihe, die als letzte im Dorf angeschlossen werden sollte. Die Männer schlugen ein Loch in die Lehmwand, zogen das Kabel durch und befestigten dessen Ende an einem Deckenbalken. Alte Krabbe befahl Shuizis Vater, sich auf eine Bank zu stellen und das Kabel abzuisolieren. Inzwischen wolle er in seine Hütte gehen und eine Fassung für
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