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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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der Dorfbewohner und ihrer Angst vor Geistern gegen Diebstahl gefeit, denn es gedieh auf Gräbern. Es war alles so verquer: Eigentlich hätte man meinen können, dass die Bauern mehr als wir vom Ackerbau verstanden. Immerhin lebten sie seit Hunderten von Jahren auf diesem Land. Aber schon nach wenigen Monaten brachten wir eine größere Ernte ein als sie, weil wir das bessere Saatgut hatten und den Ackerbau nach wissenschaftlichen Erkenntnissen betrieben – und so lernten sie von uns. Eigentlich hätte es umgekehrt sein sollen.
    Als ich älter wurde, erwartete man von mir, dass ich jedes Wochenende auf dem Feld arbeitete. Eines Tages verteilte ich mit einem anderen Mädchen Dünger auf einem Reisfeld und wurde plötzlich sehr müde. Ich sagte, ich sei so erschöpft, dass ich heimgehen müsse. Meine Freundin meinte, auch sie sei sehr müde. Gleichzeitig waren unsere Familien aber auf unsere Arbeitspunkte angewiesen. Also vergewisserten wir uns, dass uns niemand zusah, warfen einander Dünger ins Haar, und behaupteten dann, wir müssten wegen dieses Missgeschicks nach Hause gehen und uns die Haare waschen. So bekamen wir frei und dennoch die Arbeitspunkte gutgeschrieben.
    Ich war damals fünfzehn Jahre alt und zunehmend unzufrieden mit dem Leben auf dem Land. Nicht selten schwänzte ich die Arbeit, und auch die Schule langweilte mich. Papa meinte, es wäre gut für mich, wenn ich für ein paar Tage aus dem Dorf herauskam. Er hatte einen alten, alleinstehenden Onkel in Nanjing, der nächsten größeren Stadt. Durch einen Brief hatte Papa erfahren, dass es ihm nicht gut ging. »Du könntest ihn besuchen, bei ihm wohnen und die große Stadt erkunden«, schlug Papa vor. Ich war begeistert von dieser Aussicht.
    Mit einem Bus – eigentlich nur einem Lastwagen mit einer Plane darüber – fuhr ich nach Nanjing. Als ich hinten hineinkletterte, saßen und standen dort schon fast fünfzig Menschen. Ich quetschte mich zwischen sie und hielt mich an einer Gepäckablage fest. Nach vier Stunden hielt der Bus am Stadtrand von Nanjing, wo ich in einen Stadtbus umstieg.
    Der alte Mann wohnte in einer schmuddeligen, düsteren Einzimmerwohnung, in der nur ein Bett, ein Stuhl und ein Tisch standen. Er lag im Bett.
    »Guten Tag, Großonkel, ich bin Wu Yimao«, stellte ich mich vor. »Die Tochter von Wu Ningkun. Er hat gehört, dass du krank bist, und schickt mich zu dir auf Besuch.«
    »Komm rein, Kind«, sagte er mit zittriger Stimme und winkte mich zu sich. Ich reichte ihm einen Brief von meinem Vater, in dem er erklärte, wer ich war. Als der alte Mann ihn gelesen hatte, strahlte er.
    »Ich habe sechs Kinder«, sagte er. »Aber es hat mich schon lange niemand mehr besucht. Ich fürchte, ich werde bald sterben, das spüre ich in den Knochen. Und jetzt bist du hier. Wie schön!«
    Einmal in der Woche, so erzählte er, komme die Frau eines Nanjinger Freundes zu ihm, bringe ihm etwas zu essen und mache sauber. Er selbst schaffe es nicht mehr, seine Wohnung allein zu verlassen. Dann kramte er ein bisschen Geld hervor, das er unter dem Bett versteckt hatte. Er beschrieb mir den Weg zum nächsten Markt und bat mich, uns frisches Gemüse zu kaufen. Er hatte eine elektrische Kochplatte und ein paar Töpfe. Nach meiner Rückkehr holte ich draußen Wasser und kochte eine Gemüsesuppe für ihn.
    Während ich kochte, redete er unentwegt. In der Nacht schlief ich auf dem Boden neben seinem Bett. Am Morgen nahm ich seine schmutzige Kleidung und sein Bettzeug und wusch für ihn. Zuvor half ich ihm auf einen Hocker, damit er neben mir sitzen und sich mit mir unterhalten konnte. Anschließend hängte ich die Sachen draußen zum Trocknen auf eine Leine. Nach dem Abendessen hakte er sich bei mir ein, und wir gingen einmal um den Häuserblock. Er sei seit Monaten nicht draußen gewesen, erzählte er, dabei liebe er frische Luft. »Leider kann ich nur zwei Tage bleiben, dann muss ich wieder heim«, erklärte ich ihm. Er fragte mich nach meinem Vater, und ich erzählte ihm von unserem Leben auf dem Land.
    Der Onkel hatte Mitgefühl mit uns. Am nächsten Morgen adressierte er ein Kuvert an einen Empfänger in Peking und steckte einen zusammengefalteten Brief hinein. »Das ist eine Nachricht für meine Tochter«, sagte er. »Sie ist mit einem einflussreichen Mann verheiratet. Er heißt Li Zhisui und ist der Leibarzt von Mao Zedong.« Er hielt inne, damit ich die Bedeutung dieser Worte erfasste. »Vielleicht kann sie etwas für deine Familie tun.«
    Ich

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