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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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versehen werden. Im Februar, drei Tage vor Beginn des Frühlingsfests, hatten sie endlich alles beisammen. Wir begannen zu packen.
    Einen Teil unserer Kleidung verstauten wir in einem kleinen Schrankkoffer, den Papa aus den Vereinigten Staaten mitgebracht hatte. Er war zwar schon alt und abgeschabt, aber noch brauchbar und mit einer fast verblichenen Pekinger Adresse versehen. Im Juli 1951 hatte sie Lee Tsung-Dao, ein Freund von Papa an der Universität von Chicago, daraufgeschrieben. Unsere anderen Habseligkeiten stopften wir in weitere Koffer und in Bambuskörbe. An unsere Abreise dachte ich mit gemischten Gefühlen. Neben vielen traurigen Erinnerungen verdankte ich der Zeit in Gao auch ein paar schöne Erlebnisse.
    In meinen freien Stunden während des fünfzehn Tage währenden Frühlingsfestes besuchte ich die Familien meiner Freundinnen. So ging ich mit ein paar Süßigkeiten zur Hütte von Kleiner Hase und schenkte sie ihrem mittlerweile fünfjährigen Bruder. Niemand verlor ein Wort über Kleiner Hase. Ich überlegte auch, ob ich noch einmal Chunying in Bao besuchen sollte, entschied mich aber dagegen. Mir schien es fraglich, ob ich dort wirklich willkommen war. Stattdessen suchte ich ihre Eltern auf und erkundigte mich bei ihnen nach Chunying. Ihre Mutter strahlte übers ganze Gesicht und verkündete: »Sie hat einen Jungen bekommen!«
    »Bitte sagt ihr, dass ich vor meiner Abreise keine Zeit mehr hatte, sie zu besuchen. Und dass ich mich sehr über ihr Glück freue.«
    Ihre Mutter nickte. »Ich richte es ihr aus.«
    Am dritten Tag des Frühlingsfestes war ich bei Jinlans Eltern. Ich wünschte ihnen alles Gute für das neue Jahr. Keiner erwähnte Jinlan, und ich fragte auch nicht nach ihr.
    Schließlich ging ich in die Hütte von Shuizis Vater. Er war allein und brühte sich gerade Tee auf. Als ich eintrat, wünschten wir einander ein gutes neues Jahr, und er fragte, ob er mich zu einer Tasse Tee einladen dürfe.
    »Aber gern«, antwortete ich, überrascht darüber, dass ich wie eine Erwachsene behandelt wurde.
    Ich setzte mich auf eine Bank, und er reichte mir eine dampfende Tasse. Zuerst lächelten wir uns nur stumm an und nippten an dem Tee. Dann fragte ich schüchtern: »Wie geht’s Jinlan und Shuizi?«
    Verblüfft sah er mich an. »Wie kommst du darauf, mich das zu fragen?«
    »Weil Jinlan meine beste Freundin war. Sie hat mir erzählt, dass sie mit Shuizi durchbrennen wollte.«
    Unschlüssig blickte er auf seine Teetasse und schwieg.
    »Du hast sehr mutig gehandelt«, meinte ich schließlich. »Ich bewundere dich.«
    Er lächelte, sagte aber immer noch nichts.
    »Bitte erzähl mir, ob Jinlan einen Jungen oder ein Mädchen bekommen hat.«
    »Du weißt eine Menge, hm?«
    »Ja.«
    »Sie hat einen Jungen bekommen«, antwortete er. »Und sie hat ein Mädchen bekommen.«
    Es dauerte einen Augenblick, ehe ich begriff. »Zwillinge?«, fragte ich.
    »Ja«, erwiderte er. Dann stand er auf, ging zu seinem Bett, griff in den Kopfkissenbezug und zog einen Umschlag heraus. Diesem entnahm er ein kleines Foto und gab es mir. Es zeigte Jinlan neben Shuizi, und beide hielten ein Baby im Arm. Alle vier waren in dick wattierte Winterkleidung eingemummelt. Jinlan und Shuizi lächelten.
    Mir stiegen Tränen in die Augen. »Das ist das zweite Mal, dass ich von jemandem höre, der Zwillinge bekommen hat«, sagte ich. »Wie wunderbar. Du musst sehr stolz sein, Großpapa.«
    Er lachte. »O ja, das bin ich.«
    Als ich aufstand und gehen wollte, ermahnte er mich: »Das ist ein Geheimnis, Yimao. Niemand hier im Dorf darf es erfahren.«
    »Ich kann ein Geheimnis für mich behalten«, antwortete ich.
     
    An unserem letzten Tag in Gao erschien Alte Krabbe bei uns. Er war betrunken.
    »So, jetzt werdet ihr also Stadtleute«, sagte er. »Ihr glaubt, ihr fliegt aus meiner Hand geradewegs in den Himmel.«
    »Wir werden dich vermissen«, brachte Mama über die Lippen.
    »Scheiße!«, erwiderte er und spuckte auf den Boden. »Ihr seid heilfroh, von hier wegzukommen.« Als niemand widersprach, fuhr er fort: »Nun, ihr werdet mir heute Abend ein Abschiedsessen servieren. Und wir werden ein letztes Mal zusammen einen heben.«
    Da er uns immer noch Schwierigkeiten machen konnte, stimmte Mama zu und bat ihn, später wiederzukommen.
    Am frühen Abend stand er vor der Tür, zur Feier des Tages sogar in einem sauberen Hemd. »Ich habe Durst« war das Erste, was er sagte, als er in unsere Hütte trat.
    Papa machte unsere letzte Flasche Schnaps auf

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