FEED - Viruszone
ist mir wirklich ein Vergnügen, Sie endlich persönlich kennenlernen zu dürfen, nachdem ich Sie auf so vielen Weihnachtskarten gesehen habe … «
Und damit ging er davon und ließ mich allein mitten in der Menge zurück, während sich die wichtigen Leute dieses kleinen, modernen Babylons um mich drängten, in dem Versuch, für einen Moment seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Keine fünf Meter weiter standen meine Kollegen und warteten darauf, dass ich ihnen Bericht erstattete.
Die Wahrheit schien mir niemals ferner gewesen zu sein oder schwerer zu begreifen. Und in meinem ganzen Leben war ich mir noch nie so allein und verloren vorgekommen.
Mit elf habe ich begriffen, dass wir nicht unsterblich sind. Ich habe immer gewusst, dass die Masons einen biologischen Sohn namens Phillip hatten. Unsere Familie redete nicht viel über ihn, aber dann und wann, wenn jemand Masons Gesetz erwähnte, kam die Sprache auf ihn. Es ist komisch, aber irgendwie habe ich ihn als Kind verehrt, weil die Menschen sich an ihn erinnerten. Ich habe niemals wirklich darüber nachgedacht, dass man sich wegen seines Todes an ihn erinnerte.
George entdeckte die Schachtel auf der Suche nach unseren Weihnachtsgeschenken. Sie lag in Moms Büroschrank, und wahrscheinlich hatten wir sie schon tausendmal gesehen, aber an jenem Tag fiel sie George irgendwie ins Auge, und sie zog sie hervor und wir schauten hinein. An jenem Tag lernte ich meinen Bruder kennen.
Die Schachtel war voller Fotos, die wir noch nie gesehen hatten, Bilder von einem lachenden kleinen Jungen in einer Welt, in der er sich niemals Gedanken um die Dinge hatte machen müssen, mit denen wir jeden Tag konfrontiert waren. Phillip, der bei der State Fair auf einem Pony ritt. Phillip, der an einem Sandstrand spielte, auf dem nirgends ein Zaun in Sicht war. Phillip mit seiner langhaarigen Mutter in kurzärmeliger Bluse, die unserer Mutter überhaupt nicht ähnlich sah. Unsere Mutter trug das Haar kurz, ihre Ärmel waren immer lang genug, um ihre Schutzkleidung zu verbergen, und ihr Halfter drückte sich mir in die Seite, wenn sie mir einen Gutenachtkuss gab. Phillips Lächeln verriet, dass er niemals vor etwas Angst gehabt hatte, und ich hasste ihn ein bisschen, weil seine Eltern so viel glücklicher waren als meine.
Wir haben später nie über diesen Tag geredet. Wir haben die Bilder in den Schrank zurückgelegt, und unsere Weihnachtsgeschenke haben wir auch nicht gefunden. Aber an jenem Tag wurde mir klar … wenn Phillip, dieses glückliche, unschuldige Kind, sterben konnte, dann konnte das auch uns passieren. Eines Tages würden wir Pappschachteln sein, hinten im Schrank von irgendjemandem, und wir konnten nicht das Geringste dagegen tun. George wusste es auch. Vielleicht hat sie es sogar schon vor mir gewusst. Wir hatten nichts außer uns selbst, und wir konnten sterben. Es ist schwer, mit diesem Wissen zu leben. Wir haben unser Bestes gegeben.
Ab jetzt darf uns niemand mehr irgendetwas abverlangen. Jetzt nicht und auch später nicht. Wenn die Geschichte auf uns zurückblickt – die dumme, blinde Geschichte, die alles verurteilt und einen Scheiß darauf gibt, was wir dafür bezahlt haben – , soll sie sich gefälligst daran erinnern, dass niemand das Recht hatte, das hier von uns zu verlangen. Niemand.
Aus Lang lebe der König, dem Blog von Shaun Mason,
18. Juni 2040
25
»Georgia, was ist gerade passiert?«
»George? Alles in Ordnung?«
Beide klangen derart besorgt, dass ich am liebsten losgeschrien hätte. Stattdessen gab ich mich damit zufrieden, mir eine Sektflöte von einem vorbeikommenden Kellner zu nehmen, sie in einem einzigen, krampfhaften Zug zu leeren und zu blaffen: »Wir müssen los. Sofort.«
Das steigerte ihre Besorgnis nur noch. Rick riss die Augen auf, während Shaun die seinen zusammenkniff und die Stirn runzelte. »Wie sauer ist er?«
»Er widerruft in fünfzehn Minuten unsere Presseakkreditierung.«
Shaun pfiff. »Nett. Selbst für dich ist das eine beeindruckende Leistung. Was hast du gemacht? Nahegelegt, dass seine Frau eine Affäre mit dem Bibliothekar hat?«
»Es war der Privatlehrer und die Frau des Bürgermeisters von Oakland, und ich hatte recht«, sagte ich und stolzierte Richtung Ausgang. Wie erwartet folgten mir die beiden. »Ich habe nichts über Emily gesagt.«
»Entschuldigung, aber würde es jemandem von euch was ausmachen, mir zu erzählen, was hier los ist?«, warf Rick ein und beschleunigte seinen Schritt, um sich mir in den Weg zu
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