Feenkind
ohne Luft auskommen, oder? Doch, Dhalia konnte das. Sie konnte das bestimmt. Ihr konnte nichts zustoßen. Ihr konnte nichts zugestoßen sein. Nein, die Guten Geister würden das nicht zulassen. Sie würden ihm so etwas niemals antun. Gleich würde sie auftauchen und ihn wegen seiner Angst auslachen. Sie sollte ihn endlich auslachen. Warum kam sie denn nicht?!
Luftblasen! Da waren Luftblasen - kleine Bläschen, die aus der Tiefe aufstiegen und an der Oberfläche zerplatzten. Fast albern wirkten sie, so unbedeutend ohne Dhalia.
Ohne dass er wusste, was er eigentlich tat, war Chris schon im Wasser und tauchte, tauchte mit der Kraft der Verzweiflung zu dem unsichtbaren, fernen Grund, dorthin, wo Dhalia nun war.
Nein, das war nicht wahr, sie war bestimmt schon oben, sie wartete am Floß auf ihn und wundert sich, wo er blieb. Er sollte wieder nach oben. Oder wartete sie vielleicht doch unten auf ihn?
Chris schwamm in die Tiefe, bis seine eigene Lunge brannte, dann tauchte er schließlich auf. Nur, um kurz Luft zu holen und sich zu vergewissern, ob sie nicht doch schon da war. Aber da war niemand. Und so tauchte er weiter, immer und immer wieder. Bis er es schließlich erschöpft aufgab und kaum noch genug Kraft hatte, um zurück auf das Floß zu klettern. Als er es endlich geschafft hatte, richtete er sich schwankend zu voller Größe auf und schrie verzweifelt ihren Namen. "Dha-li-aaa! Wo bist du? Kannst du mich hören?"
Vielleicht ist sie abgetrieben worden, vielleicht trieb sie irgendwo verletzt im Wasser oder klammerte sich aus letzter Kraft an einen Felsvorsprung. Wann immer er etwas zu hören oder zu sehen glaubte, schnappte er sich die improvisierten Ruder und eilte trotz seiner Erschöpfung zu der Stelle herüber - jeder körperliche Schmerz, den er zu ertragen hatte, war besser, als die Suche nach ihr aufzugeben. Doch jedes Mal, wenn er sich der Stelle näherte, an der er sie zu finden hoffte, war es nur ein Baumstamm oder ein kleiner piepsender Vogel, die ihn in die Irre geführt hatten.
Irgendwann, als die Sonne sich schon langsam dem Horizont zu neigte, konnte Chris sich der grausamen Wahrheit nicht länger verschließen - er würde Dhalia niemals mehr wiedersehen.
Stumpf, beinahe automatisch ruderte er zum Ufer zurück. Er spürte weder den Wind, der an seiner noch feuchten Kleidung zerrte, noch die Sonne, die ab und zu herausschaute und mit ihren letzten strahlen seine Haut wärmte. Es war, als hätte die Welt plötzlich all ihre Farbe verloren, als wäre mit einem Schlag alles trist, grau und leblos geworden.
Langsam schlenderte Chris zu ihrem Lager herüber. Er fühlte sich leer und ausgebrannt. Und irgendwie ... allein. Dabei hatte er sich noch nie allein gefühlt. Am liebsten hätte er sich die Decke über den Kopf gezogen und die Augen ganz fest zugedrückt, um dieses grausige Bild aus ihnen zu verbannen, wie sich das Wasser des Sees über Dhalia geschlossen hatte.
Der Anblick ihrer Sachen, die noch immer so da lagen, als würde sie jederzeit zurückkommen, um davon Besitz zu nehmen, versetzte ihn in plötzliche Wut. Völlig außer sich trat er nach ihrem Schlafsack mit der säuberlich darüber gebreiteten Decke und nach ihrem Rucksack, so dass die Sachen durch die Luft geschleudert wurden. Chris konnte diesen Anschein der Normalität einfach nicht ertragen. Dabei fiel das Feenbuch, das oben in ihrer Tasche gelegen hatte, heraus und blieb auf der feuchten Erde liegen. Das Buch war es, das ihnen den ganzen Schlamassel eingebrockt hatte. Ohne das verfluchte Buch wäre Dhalia noch am Leben. Er holte aus, um es mit einem weiteren Tritt in das fast erloschene Feuer zu befördern. Doch irgendetwas hielt ihn plötzlich zurück. Vielleicht war es die Erinnerung an Dhalia, wie sie endlose Male fasziniert darüber gebeugt gesessen hatte, am Lagerfeuer oder im Boot. Und wie sie ihn dann angelächelt hatte - so zuversichtlich und voller Stolz. Er selbst lächelte ein wenig, als er das Buch aufhob und es in Gedenken an seine Freundin noch ein letztes Mal durchblätterte.
Wenn er schon keinen Körper hatte, dem er die letzte Ehre erweisen konnte, würde er zumindest ihre Sachen, die Gegenstände, die ihr wichtig waren, an ihrer statt begraben.
Den Abend verbrachte Chris damit, in der festen Erde des Waldbodens unter einem jungen Baum eine Mulde zu graben, in die er ihre Sachen legte. Dann schnitzte er mit seinem Messer ihren Namen tief in den Baumstamm hinein.
Es hatte ihm gut getan, sich auf die körperliche
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