Feenkind
holen ein Seil, damit du abgesichert bist."
"Ich fürchte, wir haben alles für das Floß verwendet. Es wird auch so gehen. Jetzt lass uns endlich los", drängte Dhalia.
Sie zog ihre Schuhe aus und schnallte sich ihr Messer an den Unterschenkel. Dann zog sie noch das Lederband mit dem Silberblatt etwas fester um den Hals, damit sie es beim Tauchen nicht verlor. Ganz abnehmen wollte sie es dann doch nicht. Barfüßig, in ihrer engen Lederhose und einem Hemd blieb sie vor ihm stehen und sah prüfend an sich hinab. "Fertig", informierte sie Chris munter grinsend.
"Willst du die Sachen nicht doch lieber ausziehen?" schlug Chris vorsichtig vor.
"Hättest du wohl gern", grinste sie zurück. Sie strich mit den Händen über ihre Kleindung. "Ich denke, das wird schon gehen."
Chris widersprach ihr nicht länger. Doch als er sie auf die andere Seite des Sees ruderte, hatte er ein ganz übles Gefühl bei der Sache.
"Nun guck doch nicht so", versuchte Dhalia ihn aufzumuntern. "Du siehst ja aus, als hätte ich vor, eine ganze Weltreise zu unternehmen. Dabei bin ich doch schon in wenigen Minuten wieder da. Vertrau mir doch, ich weiß, was ich tue." Vorsichtig richtete sie sich auf dem wackligen Floß auf. Dann drehte sie sich um und schaute Chris über die Schulter an. "Bis gleich", sagte sie und sprang kopfüber in das Wasser hinein.
Der erste Kälteschock war kurz, aber gründlich. Doch Dhalia ließ sich davon nicht aufhalten. Mit kräftigen Bewegungen begann sie, nach unten zu schwimmen. Obwohl das Wasser recht klar war, konnte sie den Grund unter sich nicht erkennen. Der See schien sehr viel tiefer zu sein, als sie vermutet hätte. Es wurde zunehmend dunkler um sie herum, das frühe Tageslicht drang nicht sehr tief ins Wasser hinein. Und das Donnern der Wasserfälle rauschte in ihren Ohren und erschwerte die Orientierung. Dhalia verharrte kurz auf der Stelle und drehte sich um die eigene Achse, um sich nach allen Seiten umsehen zu können. Als sie nichts entdecken konnte, tauchte sie weiter, obwohl ihre Luft allmählich knapp wurde. Sie konnte sich des Eindrucks nun einmal nicht erwehren, dass sie nur noch ein wenig tiefer kommen müsste, um das Geheimnis des Sees zu lüften. Der Druck, der auf ihren Ohren und ihrem Brustkorb lastete, wurde immer schmerzhafter.
Sie musste umkehren. Gleich würde sie umkehren. Nur noch ein wenig weiter.
Sie presste ihre Lippen ganz fest aufeinander, um die Luft, die aus ihren brennenden Lungen strömte, am Entweichen zu hindern.
Plötzlich spürte sie eine Berührung - nicht der flüchtige Kontakt mit einem Fischkörper, sondern Finger, die sich fest um ihren nackten Knöchel schlossen. Erschrocken fuhr Dhalia herum und ohne dass sie es verhindern konnte, entwich ein erstickter Schrei ihrer Kehle. Fassungslos sah sie zu, wie der letzte Rest ihrer kostbaren Luft in kleinen Blasen an die Oberfläche stieg. Wasser strömte stattdessen in ihren Mund. Es war süß, wenn auch mit einem starken Fischgeschmack, registrierte abwesend ein Teil ihres Verstandes. Sie spürte, wie es sich seinen Weg durch ihre Luftröhre in ihre Lungen bahnte, die verzweifelt versuchten, Sauerstoff aus dieser ungewohnten Substanz herauszufiltern, während etwas sie unausweichlich immer weiter nach unten zog.
Das letzte, das Dhalia sah, bevor die Dunkelheit sie umfing, war ein fast menschliches Gesicht, das sie mit großen Augen verwundert anstarrte.
* * *
Gebannt starrte Chris auf das Wasser, das sich soeben über Dhalia geschlossen hatte. Soweit er es konnte, verfolgte er sie mir den Augen. Doch sie tauchte schnell, sehr schnell und schon bald war sie seinen Blicken entschwunden. Dennoch blieb er über den Rand des Floßes gebeugt hocken, die Hände so fest um das Holz gekrallt, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er hatte mit ihr gemeinsam die Luft angehalten und jetzt zählte er die Herzschläge, die seit ihrem Verschwinden verstrichen waren.
Eine Minute. Sie war schon eine ganze Minute fort. Konnte es tatsächlich nur eine einzige Minute gewesen sein, sie war doch schon so lange fort? Zwei Minuten. Es waren nun zwei Minuten. Sicherlich war sie schon auf dem Rückweg. Er selbst konnte seinen eigenen Atemreflex kaum noch unterdrücken. Drei Minuten.
Schließlich gab Chris dieses alberne Atemspiel auf. Sie musste jeden Augenblick auftauchen. Sie würde seine Hilfe brauchen. Er durfte nicht auch noch außer Atem sein.
Wo blieb sie nur? Konnten tatsächlich schon vier Minuten vorüber sein? Kein Mensch konnte so lange
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