Feenkind
Arm praktisch ohne ihr Zutun erhob, um das Buch herunterzunehmen und es aufzuschlagen. Ihr Herz klopfte schneller, doch als sie einen Blick darauf warf, atmete sie frustriert aus. Nichts! Nichts als die unverständlichen Feenrunen, mit denen sie rein gar nichts anfangen konnte. Ärgerlich warf sie das Buch auf den Boden, wo es ungefähr in der Mitte aufklappte und offen liegen blieb. Die Doppelseite zeigte ein großes Bild.
Neugierig bückte sie sich herunter, um es sich genauer anzuschauen. Bilder konnte sie sehr wohl verstehen. Auf der Abbildung war ein großer Baum dargestellt. Seine Wurzeln ragten tief in die Erde hinein und verzweigten sich immer weiter, wobei die feinen Linien der Wurzeln weitere Bilder entstehen ließen, je nach dem, wohin und wie man blickte. Fasziniert hielt Dhalia sich das Bild vor die Augen, um alle Einzelheiten erkennen zu können. Sie hatte zwar noch immer keine Ahnung, was die Zeichnung bedeutete, doch sie war überzeugt, dass sie einen tieferen Sinn haben musste. Konzentriert kniff sie ihre Augen zusammen, doch die sich immer weiter verzweigenden Linien und Bilder waren zu fein, als dass sie sie mit bloßem Auge noch gut erkennen konnte. Hilfe suchend blickte sie sich um. Dabei fiel ihr Blick auf eine kleine Lupe, die auf einem Haken am Regal hing, wahrscheinlich extra zu diesem Zweck dort vor Hunderten von Jahren hinterlegt. Es war schon merkwürdig, einen derart gewöhnlichen Gegenstand in einem Reich zu sehen, das bisher so magisch gewesen war. Dennoch nahm Dhalia sie zur Hand, um die Zeichnung besser betrachten zu können. Sie hielt die Lupe über das Buch und beugte sich selbst dicht darüber.
Überrascht zuckte sie zurück. Obwohl das Glas durchsichtig schien, sah Dhalia weder die Buchseite noch das Bild, als sie hindurchschaute. Sie sah, wie ein Samen von einer unsichtbaren Hand in die feuchte Erde gepflanzt wurde, wie er keimte und zu einem großen Baum heranwuchs. Schließlich sah sie den Baum vertrocknen und zu Boden fallen, wo er sich allmählich wieder mit der Erde vermischte.
Verwirrt hielt das Mädchen die Lupe hoch und blickte hindurch - sie konnte nichts Besonderes erkennen. Es war, als würde sie durch klares Fensterglas schauen. Doch kaum hielt sie sie über das Buch, sah sie wieder genau die gleiche Abfolge von Bildern. Neugierig hielt sie die "Bilder-Lupe" an ein anderes Buch. Diesmal zeigte das Glas ihr, wie am Ende eines Regenbogens Blumen in den unterschiedlichsten Farben aus dem Boden sprossen.
Ein unkontrollierbares Grinsen machte sich auf Dhalias Gesicht breit, als sie erkannte, dass diese doch so gar nicht gewöhnliche Lupe ihr den Inhalt jedes Buches anzeigte, über das sie gehalten wurde. Sie brauchte die Runen gar nicht zu verstehen, das Kleinod in ihrer Hand konnte ihr alles zeigen, was sie wissen musste. Und das in einem Bruchteil der Zeit, die sie benötigt hätte, um das Buch zu lesen, selbst, wenn sie hätte verstehen können, was darin geschrieben stand.
Aufgeregt hielt sie die Lupe an die anderen Bände im Regal, doch sie alle schienen sich mit Bäumen und Pflanzen zu beschäftigen. Anscheinend war die Bibliothek nach Themen sortiert. Hier handelte es sich offenbar um Naturkunde. Eilig ging sie die Gänge entlang und hielt die Lupe beim Gehen an die Buchrücken.
Der nächste Gang brachte sie ihrem Ziel erheblich näher, es schien sich um Aufzeichnungen der Feengeschichte zu handeln. Sie musste sich nicht alles ansehen, was die Lupe ihr zeigte. Normalerweise genügten schon die ersten Bilder, um Dhalia erkennen zu lassen, dass ein Buch nicht das enthielt, wonach sie suchte.
Daher hätte sie auch das eine Buch, das ihr helfen konnte, beinahe übersehen. Erst als sie schon einige Schritte weiter gegangen war, waren die Bilder, die gesehen hatte, in ihren Geist vorgedrungen und hatten ihr Herz vor Aufregung schneller schlagen lassen. Hastig drehte sie sich um, um das eine Buch zu finden, das ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte. Nachdem sie sich mit der Lupe vergewissert hatte, dass sie sich nicht getäuscht hatte, hob sie es aus dem Regal, um es sich genauer anzusehen.
Dhalia setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden, legte den schweren Band sorgfältig auf ihre Knie und schlug ihn langsam, beinahe feierlich auf. Jetzt würde sie es endlich erfahren.
Mit zitternden Händen hielt sie Lupe über die komplizierten Runen-Muster, die die erste Seite bedeckten, und starrte wie gebannt auf die Bilder, die nun in dem kleinen Glas vor ihr abliefen.
Sie sah
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