Feenkind
einen dunklen, fast schwarz wirkenden See am Fuße eines gewaltigen Wasserfalls, dessen Gischt die Luft in einen feinen Nebel hüllte und einen Regenbogen wie ein Tor in den Strahlen der Morgensonne entstehen ließ. Am Ufer, unter dem Halbkreis des Regenbogens, schwebte in der Luft ein Gebilde aus flüssig gewordenem Licht. Was es war, konnte Dhalia nicht erkennen, weil das blendend helle, bunte Licht in stetigem Fluss zu sein schien. Um diese Lichtskulptur waren drei Personen, drei Feen, wie sich an deren Flügeln leicht erkennen ließ, versammelt. Eine Frau und zwei Männer, die trotz ihrer Ähnlichkeit in ihrer Art kaum unterschiedlicher hätten sein können. Die beiden Männer konnte Dhalia nur im Profil erkennen, die Frau war ihr jedoch mit dem Gesicht zugewandt. Der Mann zur Linken hatte dichte braune Haare, die ihm in leichten Locken auf die Schultern fielen und seine ebenmäßigen, gütigen Züge umrahmten. Der zweite Mann, der ihm gegenüber stand, war ihm so ähnlich, wie es sein Spiegelbild in einem Spiegel aus schwarzem Eis gewesen wäre. Er hatte die gleichen ebenmäßigen Züge, die jedoch vor Wut verzerrt waren. Seine schwarzen Augen funkelten bedrohlich und eine lange Narbe verlief ihm quer über die Wange. Die Frau war von den dreien die wohl ungewöhnlichste Erscheinung. Sie war auf ihre Art wunderschön, wenn auch am wenigsten menschengleich. Ihre Flügel schimmerten in einem intensiven blau-grün und selbst ihre langen Haare, die sich ungezähmt über ihre Schultern und ihren Rücken ergossen, erinnerten Dhalia an einen wilden Wasserfall.
Trotz der unermesslichen Schönheit des Ortes wirkten die drei Gestalten äußerst ernst, sogar erbost. Obwohl Dhalia keine Worte hören konnte, sah sie an den Gesichtern und Gesten deutlich, dass sie sich heftig stritten.
Während die Sonne ihre Runde am Himmel vollzog, schien der Streit immer stärker zu werden. Schließlich, als die Abendsonne den See beinahe blutrot färbte, streckte der Mann mit der Narbe seine Hand nach der noch immer in ihrer Mitte schwebenden Skulptur aus buntem Licht aus. Ein dunkler, lila schimmernder Feuerstrahl schoss plötzlich aus der Skulptur heraus - direkt in die ausgestreckte Hand des Mannes. Für eine kurze Zeit war er durch den Strahl mit der Lichtskulptur verbunden, dann erlosch das Feuer ebenso plötzlich, wie es entstanden war. Als er seine Hand herunternahm, hatte sich die Skulptur verändert, sie war nicht länger erfüllt von fließendem Licht. Sie war noch immer schön, doch irgendwie leblos. Der zweite Mann und die Frau schauten dem Mann mit dem Feuer erschrocken hinterher, als er sich von ihnen abwandte und davon ging. In der Ferne, dort, wohin der Blick des Feuer-Mannes gerichtet war, konnte Dhalia die Spitzen eines Gebirges erkennen, in dessen Mitte ein großer, qualmender Berg dunkel empor ragte.
Nachdem der Mann den Kreis der drei verlassen hatte, streckte nun auch die Frau ihre Hand aus. Der zweite Mann hob beschwörend die Hände, doch sie schüttelte entschieden den Kopf. Wasser strömte aus der nun starren Skulptur in ihre geöffnete Handfläche. Dann drehte auch sie sich um und ging langsam in den See hinein. Knietief im Wasser blickte sie noch einmal traurig zurück, dann wandte sie sich endgültig ab und verschwand in den dunklen Fluten. Die Statue hatte nun all ihre Schönheit eingebüßt und schien nur noch aus Staub zu bestehen, der durch eine geheimnisvolle Kraft in einer festen Form zusammengehalten wurde.
Müde hob nun auch der letzte Mann seine Hand, die Luft schien kurz zu flimmern, dann löste sich das Kraftfeld, das die Figur zusammengehalten hatte, und sie zerfiel zu feinem, glitzernden Staub. Mit einem letzten Blick auf den kleinen Staubhaufen wandte sich auch dieser Mann nun ab und verließ die Bildfläche. Erst da fiel es Dhalia auf, dass auch der Regenbogen schließlich erloschen war.
Nachdenklich klappte sie das Buch zu und ließ die Bilder auf sich wirken. Es war eindeutig, dass an jenem Tag etwas Schönes, etwas Gutes und Wichtiges zerbrochen worden war. Trotz ihres Streites schienen alle drei Feen sich ihres Verlustes bewusst gewesen zu sein. Das musste der Punkt gewesen sein, als die Zersplitterung der Feen stattgefunden hatte. Dhalia spürte tiefe Scham in sich darüber aufsteigen, dass die Menschen diese Trennung bewirkt und etwas so Erhabenes zerstört hatten. Ob damals auch der Eingang in das Feenreich verschlossen worden war, so dass nur diejenigen, die den Schlüssel besaßen, es
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