Feenland
Grenze
überqueren.«
»Du kommst zu spät, mein lieber Alex. Du hast eine ganze
Menge herausgefunden, aber du warst zu langsam.«
»Wir können den Zug immer noch aufhalten«, sagt
Alex, aber seine Unsicherheit wächst. Er hat das
Freie-Fall-Gefühl, daß Milena ihn wieder einmal
ausgetrickst hat.
»Natürlich. Aber nur mit meiner Hilfe. Und das ist
alles, was ihr tun könnt.«
Alex begreift. Die Wundnähte. Die Ausgelassenheit. Ihm
wäre nie in den Sinn gekommen, Milena als ausgelassen zu
bezeichnen, nicht in der realen Welt.
»Du hast also den letzten Schritt getan?« sagt er.
»Vor drei Tagen. Frodo McHale suchte sich
Bündnispartner, aber ich konnte ihn
ausmanövrieren.«
»Er ist tot.«
»Ich weiß. Der Pilot stand immer in meinen Diensten,
Alex.«
»Du kannst nicht mehr zurück?«
»Ein Buschroboter mit zehn Millionen fembotgroßen
Abtast- und Aufzeichnungsarmen zerlegte meinen Cortex Neuron um
Neuron. Das dauerte nicht länger als hundert Sekunden, und
danach war mein Original tot. Ich bin keine Kopie, sondern eine
Simulation dieses Originals, aufgebaut aus den Daten des
Buschroboters sowie der Cortikal-Aktivität, die ein halbes Jahr
lang gemessen und registriert wurde. Sämtliche Erinnerungen aus
meinem ursprünglichen Leben wurden in ein relationales
Datenbanksystem eingebaut, und ein heuristisches Programm versucht
die Lücken zu füllen. Das Problem dabei ist, offen
gestanden, nicht die Aufzeichnung und Simulation der
Gehirnaktivität, sondern das Interface zwischen der Simulation
und ihrer Umgebung.«
»Wir könnten dich immer noch abschalten«, gibt Alex
zu bedenken.
»Ich bin nicht in der Bibliothek der Träume. Sie war
nützlich, aber nur als Ausgangspunkt. Ich bin mittlerweile
über das gesamte Web verbreitet, Alex. Ich benutze maximal
0,0005 Prozent seiner Kapazität, aber nur, wenn ich Feenland
völlig neu durchrechne – und das geschah zum letzten Mal,
als der Vorhang für dich aufging. Wenn du mich außer
Gefecht setzen willst, mußt du einen Großteil des Webs
lahmlegen. Ich bin nicht mehr an einem bestimmten Ort, Alex, ich bin
überall. Du stolperst immer noch mit dieser lächerlichen
VR-Brille durch die Gegend. Du mußt dich in das Web
einschalten. Aber ich bin hier…«
»Was empfindest du jetzt? Ehrlich. Das würde mich
interessieren.«
»Schmerzen. Weil so viele Gefühle auf mich
einströmen. Ich benutze jeden einzelnen der kartierten
Rezeptoren, und die Hälfte davon löst Schmerzreize aus.
Aber das vergeht, wie ich höre. Ich werde mich anpassen.
Angeblich verändern die Inputs allmählich den Output der
Rezeptoren.«
»Und wenn das nicht der Fall ist?«
»Dann kann ich den Schmerz akzeptieren.«
Alex versucht sich das vorzustellen. Das Gefühl, in einem
kurzen Moment bei lebendigem Leib gehäutet zu werden – ein
Moment, der sich zur Ewigkeit dehnt und dabei nichts von seiner
grausamen, weißglühenden Pein verliert.
»Das muß die Hölle sein, Milena«, sagt
er.
»Ich werde ewig leben, Alex. Das wiegt jeden Schmerz
auf.«
»Du hast dich nicht verändert. Du warst immer…
einzigartig.«
»Ich wußte, daß du mich verstehen würdest,
Alex. Nach Glass verstehst du mich am besten.«
»Früher hätte ich das als Kompliment betrachtet. Wo
ist Glass?«
Antoinette reicht Alex ein kleines Messing-Fernglas. Es
ermöglicht ihm einen Blick durch die Seidenwände des
Pavillons. Der alte Mann liegt mit geschlossenen Augen in einem
gläsernen Sarg.
»Er wechselte hinüber, ehe die Codes, die wir durch den
Kinder-Kreuzzug erhielten, zur Verfügung standen. Ich werde ihn
bald wecken. Dann können wir für immer zusammen
sein.«
»Du liebst ihn.«
»Es ist genau genommen keine Liebe.«
»Es ist mehr als Verständnis.«
»Er ist beinahe so genial wie ich. Und ebenso einsam. Das
Schicksal verband uns – entweder als Liebende oder als
Todfeinde.«
»Du hast den Kinder-Kreuzzug die ganze Zeit für deine
Ziele benutzt, nicht wahr? Selbst dann noch, als sich deine
Töchter gegen dich wandten.«
»Ich gebe zu, daß bestimmte Aspekte außer
Kontrolle gerieten, aber Nebeneffekte sind bei einem Projekt von
dieser Größenordnung unvermeidlich. Meine Töchter
mischten sich ein, das stimmt. Sie waren sehr ungezogen, aber im
Grunde wußten sie nicht, daß sie etwas Böses taten.
Außerdem wird die Welt kaum um ein paar kleine Mädchen
trauern, die irgendwann ohnehin ein gewaltsames Ende gefunden
hätten oder an einer tödlichen Krankheit zugrunde gegangen
wären, nachdem sie mehr
Weitere Kostenlose Bücher