Feenland
Powell erneut trifft. Dann liegt der Mann platt da wie ein
Fisch an Land. Ray schnellt plötzlich herum und beißt dem
Mann in die Kehle.
»Laß ihn am Leben!« ruft Alex und öffnet mit
einem Ruck den Sitzgurt. Das Deck vibriert und schwankt heftig.
Jenseits der Kanzel, im Kegel des Suchscheinwerfers, ist die Luft
erfüllt von einem Blizzard aus Holzsplittern, als der Helikopter
eine Schneise durch das Laubdach zieht.
Obwohl es sich um eine kontrollierte Bruchlandung handelt, wirft
der Aufprall Alex auf den Rücken. Frodo McHale stemmt den
Hinterkopf und die Stiefelabsätze gegen den Boden, daß
sein Körper eine Art Brücke bildet, und versucht mit einer
Hand das Blut zu stillen, das aus seiner Kehle spritzt.
Ray dreht sich um und spuckt aus. »Keine Worte zu
finden«, murmelt er.
Frodo zuckt noch einmal und liegt dann still. Seine schwarze
Kleidung ist blutgetränkt.
»Ich glaube, wir haben einen Schutzengel an unserer
Seite«, sagt Mistress Powell.
Der Kleine in seinem Pilotenkokon preßt sich die
Knöchel in die tränenden Augen und wimmert, er sei blind.
Sein Gesicht wird von dem hellen Schein eingerahmt, der von der
weggeschleuderten Brille ausgeht.
Dann beginnt das Licht zu pulsieren.
»Sie will dich sprechen, dicker Mensch«, sagt Ray.
Da der geblendete Cowboy nicht zu wimmern aufhört, gibt
Mistress Powell ihm eine Beruhigungsspritze und schafft ihn nach
draußen. Alex verbindet sein eigenes Computerdeck mit dem
Pilotenkokon. Er streift Brille und Handschuhe über, holt tief
Luft und drückt auf die Leertaste des Keyboards, das vor ihm
erscheint.
Und seine Augen sind erfüllt von weißem Licht.
Nach und nach, wie bei einem sich entwickelnden Foto, treten
Konturen aus dem Licht hervor. Die Perspektive beginnt sich
abzuzeichnen. Es ist ein Zimmer, ein weiß getünchtes
Zimmer mit hellen Dielenbrettern. Die weißen Rollos vor den
Fenstern halten gleißendes Sonnenlicht ab. Zwischen den
Fenstern singt sich ein gelber Kanarienvogel in einem Käfig das
Herz aus dem Leib. Obwohl er im richtigen Leben ein mechanisches
Spielzeug war, scheint er hier in der Virutalität lebendig zu
sein, mit glänzenden Augen und schwellender Brust, die sich hebt
und senkt, wenn er seine Trillerkaskaden zum Besten gibt.
Einen Moment lang ist der Kanarienvogel der einzige Farbfleck im
Raum, aber dann bewegt sich etwas gegen die weiße Wand, und
Alex sieht eine Frau in einem langen weißen Kleid. Nur ihre
dunklen Augen brennen durch das weiße Haar, das ihr Gesicht
nahezu verdeckt.
Alex denkt sofort an die virtuellen Geister im Damen-Rauchsalon
des Grand Midland Hotel am Bahnhof St. Pancras, denn die Frau ist ein Geist. Sie ist Nanny Greystoke. Dann ist sie Milena, wie Alex
sie in Erinnerung hat, das kleine Mädchen mit dem ernsten,
altklugen Gesicht, das dichte schwarze Haar zu einem Zopf am
Hinterkopf geflochten. Sie trägt das gleiche weiße T-Shirt
und die grünen Shorts, die sie bei ihrer zweiten Begegnung trug,
damals im Pizza-Express von Soho.
Alex steht auf, und Ray fragt ihn, was los ist. Alex ignoriert den
Elf. Der widerwärtig warme Geruch von Frodo McHales Blut, der
Gestank nach heißem Öl, der vom Helikopter ausgeht, das
laute Knirschen beim schrägen Aufsetzen in einem Bett aus
gebrochenen Ästen – all das weicht zurück. Alex ist
tief in der virtuellen Welt und registriert nur, was er durch den
Link sieht und hört.
»Ist es das, was geschah, als ich bei dir klingelte?«
fragt er. »Ist es das, was ich vergessen habe?«
»Nein, das ist es nicht, Alex. Aber spielt es denn
überhaupt noch eine Rolle?«
»All die Jahre…«
»Du hast nach mir gesucht, weil…« Der gerade Strich
von Milenas Augenbrauen bekommt in der Mitte einen Knick. Dann lacht
sie. »Ach, Alex! Du bist ein solcher Romantiker!«
»Deine Menschenkenntnis war noch nie besonders
ausgeprägt.«
»Ich hatte kein Interesse an Details. Nichts geht verloren,
Alex, wenn du weißt, wo du suchen mußt.«
Spielsachen liegen überall auf dem Boden verstreut. Zwei
Rennautos umkreisen einander und flitzen dann in verschiedene Ecken
des Zimmers. Ein Clown trommelt, und ein Soldat mit roter
Uniformjacke bläst auf einer winzigen Blechtrompete. Ein
Teddybär wackelt auf Milena zu, die plumpen Ärmchen bittend
ausgestreckt. Sie nimmt ihn auf den Arm und drückt ihn an
sich.
»Du bist zurückgekommen«, sagt der Teddybär
mit seiner Brummstimme. »Ich wußte, daß du
zurückkommen würdest.«
»Ich fand dieses Zimmer in den Archiven der
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