Feenland
Zweimal weichen die neuen
Käferformen den länglichen Rauten gesunder Randgleiter aus
– und dann schnappt ein Randgleiter zu, verschlingt sein Opfer
und wechselt die Farbe von Grün in Orange.
Noch zwei. Alex fragt sich, was die Dinger eigentlich vorhaben,
als eines davon den Weg eines Randgleiters kreuzt, der einen
Huckepack-Organismus mitschleppt – und die neue Käferform
frißt den Randgleiter mitsamt seinem Parasiten, leuchtet rot
auf und zerfällt in zwei Hälften.
Nachdem Alex eine halbe Stunde auf seinem Drehstuhl hin und her
gerutscht ist, um jede Perspektive seiner K-Leben-Welt zu beobachten,
ist er ziemlich sicher, daß er alles Wesentliche über die
neuen Käferformen weiß. Sie können nur die
Randgleiter absorbieren, die mit Huckepack-Parasiten infiziert und
deshalb geschwächt sind. Umgekehrt können sie selbst von
allen anderen K-Lebensformen gefressen werden. Und da die neuen
Geschöpfe eine starke Vorliebe für die Außenbezirke
der virtuellen Karte haben, wo Randgleiter die dominanten Karnivoren
sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß sie von gesunden
Randgleitern erbeutet werden. Andererseits vermehrt sich die
Population der neuen Käferformen auf Kosten erkrankter
Randgleiter, und Alex hegt die feste Überzeugung, daß sich
schon bald ein Gleichgewicht zwischen Randgleitern,
Huckepack-Parasiten und neuen Käferformen einstellen wird, das
in einer komplexen, aber dynamisch stabilen Wechselwirkung um einen
unbekannten Attraktor oszilliert.
Alex streift seine VR-Brille ab und schickt eine Botschaft an die
Web-Adresse, die sich in den K-Leben-Codes verbirgt. Er ist kaum mit
dem Eintippen fertig, als das Telefon klingelt. Er hebt ab, und das
kleine Mädchen sagt: »Na, endlich!«
10 Leroy
Leroys Laden ist fast leer. Das Geschäft kommt erst in Gang,
wenn die Kneipen ringsum schließen, und es ist noch nicht mal
zehn. Im Hintergrund des schummrig beleuchteten Kellers lungern ein
paar alte Männer um den Billardtisch, ihre Gesichter mal im
Schatten und mal im Licht der dicht über dem grünen Viereck
baumelnden Lampe. Zwei andere Kunden spielen an einem der
quadratischen, resopalbeschichteten Tische Domino; das Klicken ihrer
Steine ist lauter als das Gebrabbel des Fernsehers über der
Bar.
Leroy Edwards steht hinter der Theke, und als er Alex die Treppe
herunterkommen sieht, schüttelt er eine Flasche Tomatensaft,
dreht den Verschluß ab und schenkt ungefragt ein kleines Glas
voll.
»Deine Mutter kommt erst später«, sagt Leroy.
»Ich wollte mit dir reden.«
Das scharfe Aroma des mit Worcester-Sauce gewürzten
Tomatensafts überlagert den Blutgeschmack auf der geplatzten
Unterlippe. Sein Kiefer schmerzt immer noch.
Leroy blinzelt und meint mit übertriebenem Insel-Akzent:
»Was führt dich in meine Lasterhöhle, weißer
Mann? Auf der Suche nach Blow? Ich habe immer Dutch Dragon im Haus,
aber für dich opfere ich vielleicht eine Prise echtes Kraut aus
den Bergen Jamaikas. Willst du heute noch schick ausgehen? Das ist
ein neues Hemd, oder?«
»Yeah, ich habe später noch ’ne Art
Rendezvous.«
»Aber zuerst kommst du und besuchst deinen alten Onkel Leroy.
Wo liegt dein Problem? Ich sehe, jemand hat dir eine aufs Maul
gegeben. War allerhöchste Zeit.«
Leroy ist Anfang sechzig, fast so dick wie Alex, aber immer noch
stark und hellwach und unter seinen Landsleuten immer noch so etwas
wie ein Held. Er hat die Ärmel seines weißen Hemds hoch
aufgerollt. Auf seinen Unterarmen sind verlaufene blaue
Gefängnis-Tattoos zu sehen, eingestochen mit einer Nähnadel
und fixiert mit Kugelschreiber-Farbe. Kurzgeschnittenes, graues Haar
umgibt seinen Schädel mit einer Wollkrause, und seine Nase ist
so flachgedrückt, daß die Nasenlöcher wie schmale
Schlitze aussehen – das Werk eines Cricket-Schlägers. Aber
Leroy hatte dem Kerl, der ihn überfiel, die Waffe entrissen,
sich blutend und brüllend wie ein angestochenes Schwein auf ihn
gestürzt und ihm beide Arme gebrochen. Alex kennt diese und
hundert andere Geschichten; Leroy war mit Lexis befreundet, bevor
Alex auf die Welt kam, und manchmal fragt sich Alex… aber sein
rotes Haar und die Höhlenbewohner-Blässe sprechen
dagegen.
Lexis begann für Leroy zu arbeiten, als er seine Kneipe in
der Brixton Road eröffnete, The Commercial Arms, ein
nüchterner, in den Fünfzigern erbauter Backstein-Palast mit
einer Bar aus Fertigteilen, blanken Holzfußböden und
weißen Fliesenwänden, Leroy betrieb eine Sound-Anlage, ehe
er
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