Feenland
sagt Doggy Dog. Er klingt so
angstgeschüttelt, wie Alex sich fühlt. »Du hast es
geschafft, direkt vor Billy Rocks Nase – obwohl ich keine Ahnung
habe, was der ganze Zirkus sollte. Ich könnte dir jederzeit
eines dieser Dinger besorgen, Tag und Nacht.«
»Das ist die Frage«, meint Milena. Sie hat eine
Taschenlampe in der Hand.
Doggy Dog lacht gönnerhaft. »He, Kleine, du willst mich
doch nicht mit einer Strahlenkanone wegputzen?« Im nächsten
Moment flackert ein roter Blitz, und Alex liegt flach auf dem nassen
Asphalt, das Gesicht dicht neben einer Pfütze, in die der Regen
fällt.
Zunächst denkt Alex, daß Milena Doggy Dog erschossen
hat, aber dann sieht er, daß der Junge mitten auf der
Straße herumkriecht. Er sucht nach seiner Pistole, doch die hat
Milena. Sie grinst Alex an und sagt: »Magie!«
Doggy Dog steht auf und streckt den Arm aus. Er hat ein Messer in
der Hand. »Gib mir das Ding zurück, und ich tu dir
nichts!«
»Hau ab«, erwidert Milena, »und ich tu dir nichts!«
Das ist die falsche Antwort. Doggy Dog hechtet mit gezücktem
Messer nach vorn, und wieder flackert das rote Licht, und wieder
liegt Alex flach auf dem Bauch. Er hat sich in die Zunge gebissen und
spuckt Blut aus, als er sich hochrappelt.
Doggy Dog kauert am Boden und starrt Milena an. »Du
Dreckstück!« kreischt er, aber seine Stimme ist schrill vor
Angst.
Milena hält das Messer hoch. Die Klinge blitzt im
Scheinwerferkegel des Transits, als sie das Ding achtlos wegwirft.
»Dummer kleiner Junge!« sagt sie.
Mit einem Aufschrei, der zornig und entsetzt zugleich klingt, will
sich Doggy Dog auf Milena stürzen. Sie hebt die Pistole. Ihre
Miene ist kalt und angespannt.
Der trockene Knall des ersten Schusses peitscht durch die enge
Gasse. Doggy Dog kracht gegen die Seitenwand des Transits. Milena
feuert noch dreimal, im Abstand von genau fünf Sekunden, und
Doggy Dog fällt nach vorn aufs Gesicht.
Alex kniet im Regen, beide Hände gegen den Bauch
gepreßt. Er kämpft gegen einen Schüttelfrost an. Sie
hat den Jungen gereizt, denkt er, damit sie ihn töten
konnte.
Milena befiehlt der Puppe, in den Transit zu steigen. »Du
auch«, sagt sie zu Alex. »Ich kann nicht fahren.«
»Was würdest du tun, wenn ich mich weigere? Mich
erschießen?«
»Mach, was du willst – du bist ein freier Mensch«,
erklärt Milena. »Ich werde überleben. Das weiß
ich jetzt. Ich werde alles überleben. Du kannst aussteigen,
Alex. Du kannst jederzeit aussteigen.«
Er weiß, daß er nicht aussteigen kann. Die Blutschuld
bindet sie. Außerdem muß er alles sehen, alles wissen.
»Komm«, sagt er, »verschwinden wir von hier!«
16 Zur Flucht geboren
Sie drücken Perse die Pistole von Doggy Dog in die Hand und
lassen ihn halb bewußtlos neben dem Toten liegen, aber Alex
weiß, daß es nicht so glatt gehen kann. Als er den
Transit auf die Brunei Road steuert, sagt er zu Milena: »Du
kannst nur hoffen, daß hier draußen keiner beobachtet
hat, wie der Junge ums Leben kam.«
Milena starrt die rötlichgelben Straßenlaternen an, die
draußen vorbeihuschen. Sie umklammert die silbrige Tasche auf
ihrem Schoß. Die Puppe kauert zu ihren Füßen, unter
dem Armaturenbrett. »Wenn dieser Polizist nur einen Funken
Verstand hat, nimmt er die Tat für sich in Anspruch. Aber das
spielt bald keine Rolle mehr. Du hast doch hoffentlich ein
Versteck?«
Alex hat kein Versteck, zumindest kein richtiges, aber er denkt
schon eine Weile über die Möglichkeiten nach, die sich ihm
bieten. Er fährt eine Zeitlang nach Westen und bekommt jedesmal
Herzjagen, wenn er einen Polizeiwagen sieht, überquert dann die
Tower Bridge, umgeht die Square Mile, wo selbst um diese Stunde
Lichtvorhänge zu Turmspitzen mit roten Blinklichtern aufsteigen,
und fährt die Uferstraße entlang. Die
Parlamentsgebäude schimmern in einem Kokon aus weißem
Licht über ihrem Spiegelbild im schwarzen Wasser der Themse. Der
Bogen der Westminster Bridge zur South Bank Plaza und Waterloo hin
hebt sich gegen den Feenglanz ab.
Sie lassen den Victoria und Hyde Park hinter sich und umrunden
Marble Arch, dessen Zuckerguß-Ornamentik von Scheinwerfern
angestrahlt wird. Das Benzin geht aus, und nachdem Alex getankt hat,
ersteht er an dem mit Panzerglas gesicherten Kassenraum, im
bläulichen Schein des Schutzdachs, ein Dutzend
Schokoladentafeln, Cola-Dosen, zellophanverpackte Sandwiches. Die
Angst hat ihn hungrig gemacht.
Er streift den orangefarbenen Coverall ab, als Milena aus
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