Feenland
der
Toilette kommt, weiß im Gesicht und mit wässerigen Augen.
Ihr ist schlecht geworden, sagt sie. In gewisser Weise ist Alex
über dieses Zeichen von Schwäche erleichtert. Also besitzt
sie doch menschliche Regungen. Sie klettert wortlos zurück in
den Bus. Die Puppe sitzt auf dem gleichen Fleck wie zuvor, still und
ohne Murren.
Alex ißt, während er durch das enge Straßengewirr
von Paddington kurvt, und steuert schließlich das
Camp-Labyrinth unter den Viadukten der Westway Line an. Der Transit
holpert im Schrittempo über eine schlammige Fahrspur,
während Alex nach einem freien Platz in dieser wilden Siedlung
sucht, welche die größte Enteigneten-Gruppe von ganz
London beherbergt.
Es gibt Menschen, die seit der Mitte des letzten Jahrhunderts hier
leben. Ursprünglich befand sich an dieser Stelle ein von den
Behörden genehmigtes Zigeunerlager, das im Lauf der Zeit Ring um
Ring von den Vertriebenen und Flüchtlingen der
Sellafield-Katastrophe erweitert wurde. Man sieht immer noch ein paar
Wohnwagen, aber die meisten Behausungen sind improvisiert: Busse und
Autos, die Achsen auf Steinblöcke gestützt; Zelte aller
Art; Blechhütten aus flachgedrückten Öltonnen; an den
Brückenpfeilern abgestützte Holzbuden; unterteilte
Frachtcontainer; riesige Betonröhren mit primitiven
Lattenverschlägen an den Öffnungen. Ein Doppeldecker ohne
Räder hat einen Gemüsegarten auf dem Dach.
Grüne Biolumineszenz-Lampen flimmern hier und da, einzeln
oder in Gruppen. In der Luft liegt der beißende Qualm eines
großen Lagerfeuers, wo hundert oder mehr Menschen zu den auf-
und abschwellenden Rhythmen einer Gruppe Freestyle Drummer
tanzen.
Nachdem Alex eine Lücke gefunden und eingeparkt hat, kommt
ein kräftiger Schwarzer mit langen Dreadlocks und einem
freundlichen Zahnlücken-Grinsen auf ihn zu und fragt im
breitesten Birmingham-Dialekt, ob er einen Anschluß braucht,
Pauschalbetrag pro Standplatz, Strom und Telekom inclusive. Alex
lehnt ab, gibt dem Typen aber fünf Pfund und bittet ihn, die
Augen offen zu halten. Es ist der Rest seines Bargelds; und Milena
besitzt überhaupt nichts. Sie hat, wie sich herausstellt, noch
nie im Leben etwas gekauft.
Der Mann wirbelt die Münze durch die Luft und steckt sie ein.
Dann beugt er sich zum Seitenfenster herunter: »Hier paßt
jeder auf den anderen auf. Habt ihr Ärger, du und die Kleine?
Ist sie deine Tochter?«
»Ich bin seine Schwester«, sagt Milena. Sie scheint
plötzlich den Tränen nahe. »U-unsere Eltern haben sich
mit Drogen kaputtgemacht. Verrate ihnen ja nicht, daß wir hier
sind – bitte!«
»Hier kriegt ihr keine Probleme«, beruhigt sie der Mann.
»Außer ihr sucht selber welche. Klar?«
»Klar.« Alex nickt.
»Dort drüben ist ein Hydrant«, sagt der Mann und
deutet die Schiene entlang. »Der Mann, der ihn betreibt, macht
euch ’n fairen Preis. Dahinter findet ihr’n Abzugsgraben
mit Toilette und Waschgelegenheit. Daß ihr mir ja nicht euren
Dreck aus dem Fenster kippt und dann abhaut! Die Samariter kommen
gegen zwei vorbei, wenn ihr was zu essen wollt und euch die Beterei
nicht auf den Geist geht. Das Hilfskorps aus den Vororten ist schon
durch, aber der Samariter-Fraß schmeckt sowieso
besser.«
Alex bietet ihm eine Tafel Schokolade an, aber der Mann
schüttelt den Kopf. »Da weiß kein Mensch, was in dem
Zeug drin ist. Wenn ihr echte Naturkost sucht, dann fragt nach mir.
Mister Benny. Ich verwende nur reine Zutaten. Alles, was unsere
Mutter Erde hergibt. Mich kennen die Leute, die kommen sogar von
draußen, um bei mir zu essen. Wenn ihr nach links anstatt nach
rechts abgebogen wärt, hättet ihr das Schild sehen
können. Guckt mal zum Frühstück vorbei,
okay?«
Und damit verschwindet er in den Schatten zwischen einem Zelt aus
schwarzem Polyethylen und einem aufgebockten Sierra, hinter dessen
Windschutzscheibe eine Kerze flackert.
»Da geht er hin, der König seines Reiches!« stellt
Milena trocken fest. Sie kurbelt das Fenster auf ihrer Seite runter,
streckt den Kopf raus und sieht sich um. »Und was für ein
Reich!« fügt sie hinzu. Sie scheint ihr Gleichgewicht
wiedergefunden zu haben. »So, Alex, nun erzähl mir, was du
vorhast!«
Alex hat mit einem Mal Angst. »Ich möchte sehen, wie du
es machst«, sagt er.
Milena lacht und bückt sich, um die Puppe zu streicheln, die
in den Schatten zu ihren Füßen kauert. »Ich habe es
noch nie gemacht. Aber jetzt ist der Zeitpunkt wohl
gekommen…«
Also bringen sie die Puppe nach hinten in den Transit,
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