Feenland
direktem Weg ins Zentrum von
London.
Ein schwarzer Elektrowagen in schnittiger Tropfenform parkt auf
der gelben Doppellinie vor dem hohen, schmalen Haus in der Bridle
Lane. Die Tür steht offen. Alex tritt ein, steigt eine Treppe
hoch, die ihm vage bekannt vorkommt, und folgt dem Klang einer
Männerstimme.
Das Zimmer am Ende der Treppe muß sich über die ganze
erste Etage erstrecken. Es ist weiß gestrichen. Vor den
Fenstern sind weiße Papier-Rollos heruntergelassen. Der Boden
besteht aus heller Esche, ist auf Hochglanz poliert und mit Spielzeug
übersät. Jede Fläche glänzt wie von innen
erhellt.
Zwei Leute befinden sich in dem Raum. Ein Mann im schwarzen Anzug
steigt zwischen den Spielsachen umher und gibt von jedem eine genaue
Beschreibung per Handy durch. Eine hagere, ältliche Frau in
einem schlichten weißen Kleid steht in einer Ecke und starrt
den Mann mit leeren Augen an.
Alex weiß, daß er die Frau schon einmal gesehen hat,
auch wenn er sich nicht daran erinnert. Er nennt ihren Namen, und der
Mann in Schwarz wirbelt herum, schaltet das Handy aus und fragt:
»Wo ist sie?«
»Ist sie nicht hier?«
»Nanny Greystoke glaubt, sie müßte hier sein, aber
mit Nanny Greystoke stimmt irgend etwas nicht. Wo ist sie?«
»Ich habe keine…«
Alex wird unvermittelt gegen die Wand gedrückt. Der Mann
umklammert mit einer Hand seine Kehle. Er trägt schwarze
Handschuhe, gesäumt mit myoelektrischer Pseudomuskulatur. Sein
Griff ist eisenhart. Sein Atem riecht nach Knoblauch. Seine Augen
sind grau. Die Pupille seines linken Auges hat im oberen Viertel ein
paar braune Flecken.
Alex kann nicht umhin, all diese winzigen Dinge zu registrieren.
Seine Nervenenden sind freigelegt, blankgescheuert von Angst.
»Wo ist sie?« Der Mann spricht laut und betont jedes
Wort.
Alex macht eine Faust, und der Mann schaut ihm ruhig in die Augen
und sagt: »Sie bringen eine Menge Gewicht mit, aber keine
Kondition – und ich tue hier meinen Job. Also vergessen
Sie’s lieber, Mister Sharkey.«
Alex lacht. Das klingt wie der Dialog aus einem alten Film. Dem
Drehbuch nach muß er jetzt zuschlagen, und der Mann macht ihn
daraufhin fertig. Aber er muß dem Drehbuch nicht folgen. Er ist
frei. Milena hat ihn freigegeben, so wie sie die Puppe aus ihrem
Gehege befreit hat. Er entspannt sich in der Umklammerung des Mannes
und beobachtet an ihm vorbei Nanny Greystoke, die einen Punkt
jenseits der Wand anzustarren scheint.
»Zweihundert Hertz«, sagt Alex. »Das ist mir auch
passiert.«
Der Mann läßt Alex los und tritt zurück.
Spielsachen weichen seinen teuren schwarzen Tretern aus.
Es gibt Dutzende von Spielsachen, alle amniotronisch. Ein Affe mit
Goldjäckchen und rotem Fez schlägt Tschinellen,
während er wackelnd auf und ab marschiert. Eine Schildkröte
tastet sich vorsichtig entlang der Fußboden-Randleiste. Zwei
Rennwagen verfolgen einander in Schlangenlinien und mit blinkenden
Scheinwerfern.
Ein Teddybär sagt immer wieder mit brummig-kläglicher
Stimme: »Komm zurück! Bitte, komm zurück! Komm
zurück zu uns!« Als der Mann ihn auf den Arm nimmt,
fängt er zu strampeln an und erklärt entrüstet:
»Du darfst nicht mit mir spielen – du nicht!«
»Wir werden sie verhören«, meint der Mann und setzt
den Teddybären ab, »aber ich glaube nicht, daß sie
uns viel erzählen können. Vielleicht finden wir etwas auf
ihren Chips. Sie speichern alle die visuellen und akustischen Daten
von etwa einer Woche. Wo ist sie, Mister Sharkey?«
»Ich weiß es nicht.« Das Sprechen schmerzt.
Der Mann bewegt die behandschuhten Finger. »Ich muß
achtgeben. Ein Stups mit dem Zeigefinger würde reichen, um Ihrem
Gesicht ein brandneues Loch zu verpassen. Also seien Sie
vernünftig, und sagen Sie mir, wo sie ist.«
Neben einem der weißverhängten Fenster beginnt ein
Kanarienvogel in einem vergoldeten Käfig ein kurzes Lied zu
schmettern. Die Trillerflut rührt etwas auf, das Alex
Tränen in die Augen treibt. Er muß an den Wellensittich
denken, den Lexis in der Wohnung hielt und der zwei volle Wochen
überlebte, nachdem das Vogelsterben begonnen hatte und die
Tauben, Spatzen und Stare aus dem Himmel fielen. Alex fand ihn eines
Morgens tot auf dem Käfigboden. Er erinnert sich noch an die
flaumige Leichtigkeit des kleinen Körpers, an die zarten
korallroten Füßchen mit den winzigen transparenten
Krallen. Der Kanarienvogel, gefangen in einem Lichtspeer, der durch
die Ritzen des Rollos dringt, dreht den Kopf nach hinten und wieder
nach
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