Feenland
fahl aussehen. »Klug sein – das ist
auch kein besonders großer Vorteil«, sagt er.
»Erstens wird es immer einen geben, der noch klüger ist als
Sie. Zweitens verleitet es Sie zu einer gefährlichen Verachtung.
Sie bilden sich ein, Sie könnten andere Menschen benutzen. Und
nun sind Sie benutzt worden. Willkommen in der Wirklichkeit,
Alex!« Er drückt seine Zigarette aus. »Kommen Sie, ich
bringe Sie nach draußen.«
Auf dem Weg zur Pforte kommen sie an einem Raum vorbei, wo ein
halbes Dutzend Polizisten – darunter Perse – vor einem
großen Fernseher sitzen. Sie lachen sich kaputt über den
verstörten Dicken in seinem orangefarbenen Coverall, der durch
das Dunkel und den Regen hinter einem kleinen Mädchen und einer
nackten blauhäutigen Puppe herkeucht. Die Kamera schwenkt
weiter, richtet sich auf einen verschwommenen weißen Kasten.
Der Transit. Alex dämmert die Wahrheit: Geheimkameras
müssen ihren Weg von A bis Z verfolgt haben.
Alex sieht Cryer an. Der lächelt und tippt sich an die
Stirn.
»Ich bin neugierig«, sagt Cryer. »Was werden Sie
jetzt tun?«
Alex erwidert das Lächeln. Vielleicht ist seine
plötzliche Unrast, der Impuls, die Stadt zu verlassen, der
Drang, Milena zu folgen, nichts als eine Infektion, die er mit einer
Dosis Universal-Impfstoff bekämpfen könnte. Aber er
weiß, daß er nichts dergleichen tun wird. Er hat ein Ziel
– wenn er es finden kann, wenn es existiert. Vielleicht ist es
nicht mehr als eine Idee, aber heutzutage sind Ideen so real wie eine
ganz normale Erkältung. Die Zeit erscheint reif für diese
Idee. Sie bahnt sich ihren Weg in die Welt.
»Ich mache mich auf die Suche nach Feenland«, sagt
er.
TEIL ZWEI
Liebesbomben
1 Europa
Europa zu Beginn des Dritten Millenniums scheint nicht der beste
Ort für die Suche nach einem abnormal intelligenten kleinen
Mädchen zu sein, das mit voller Absicht untergetaucht ist. Alex
Sharkey macht eine lange Reise daraus, quer durch Frankreich und
Deutschland und durch die kleinen Königreiche und Republiken des
Ostens. Er braucht dazu zwölf Jahre. Obwohl ihm die Produkte von
Milenas Phantasie unentwegt begegnen, stößt er in all der
Zeit nur ein einziges Mal auf eine wirklich heiße Spur.
Puppen sind längst nicht mehr der letzte Modeschrei der
Reichen. Sie werden als billige, computergesteuerte
Universal-Arbeitskräfte verwendet, mit Vorliebe in Bereichen,
die ein hohes Risiko bergen – in Chemiefabriken und
Kohlebergwerken, im Intensiv-Anbau und in Kernkraftwerken. Nach und
nach ersetzen sie auch die Menschen in der aufstrebenden Nanotechnik:
Auswechselbare Chip-Module und aus Fullerenen gesponnene neuronale
Netze gewährleisten, daß Puppen zwanzig Stunden
täglich exakte Primär-Fembot-Schablonen ätzen, die
nicht größer als Bakterien sind. Städte wie
Rotterdam, Hamburg, Budapest und Moskau haben Killing-Fields- Konzessionen erworben. Tagtäglich werden in der
Europäischen Union mehr als tausend Puppen in die Sport-Arenen
geschickt und getötet. Es gibt Arenen nur für Frauen,
Arenen für Senioren, Arenen, wo die geistig und psychisch
Gestörten den mörderischen Phantasien ihres Über-Ichs
freien Lauf lassen können.
Es ist ein Zeitalter der Exzesse.
Im Europa der Ersten Welt erhalten die Menschen ein
Standard-Einkommen aus staatlichen Kapitalrücklagen und
genießen grenzenlose Freizeit durch einen Wirtschafts-Boom
ohnegleichen; er ist die Folge neuer Techniken, welche die seit Henry
Fords Tagen kaum veränderten Methoden der Massenproduktion
endgültig verdrängt haben. Sie leben in sogenannten
Arkologien am Rande der einstigen Ballungsgebiete, ausgedehnten
Komplexen aus Wohnraum, Freizeitparks und Einkaufszentren, teils
geplant, teils organisch gewachsen. Mehr als fünfzig Prozent der
Bevölkerung im Europa der Ersten Welt sind über achtzig
– die Babyboom-Generation des letzten Jahrhunderts, die ohne
eigenes Zutun in ein Postmillennium-Paradies geschlittert ist –
und Nanotechnik plus Gentherapie verheißen, daß zumindest
die Hälfte dieser Menschen ihr zweites Jahrhundert erleben
werden.
Aber es gibt auch das Europa der Vierten Welt, das Europa der
Entrechteten, der Besitz- und Heimatlosen. Ganze Volksgruppen wurden
durch die Bürgerkriege in den einstigen Ostblock-Ländern
entwurzelt; dazu kommen Scharen von illegalen Einwanderern aus den
ökonomischen und ökologischen Katastrophengebieten Afrikas
und Asiens, die wie Zugvogelschwärme in Italien einfallen und
von dort bis
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